100 Jahre Leica | 100 Jahre Kleinbildfotografie
1925 brachte die bis dahin für ihre Mikroskope bekannte Firma Leitz mit der »Leica« ihre erste Fotokamera auf den Markt und erfand en passant das Kleinbildformat (36 × 24 mm), noch heute die Sensorgröße der ›Vollformat‹-Digitalkameras. Diese Leitz-Camera war für damalige Verhältnisse eine Miniaturkamera, die man in der Jackentasche transportieren konnte und die dennoch eine gute Bildqualität lieferte.
Unternehmerisch war das ein mutiger Schritt, galt damals doch die Regel, dass gute Bilder große Kameras voraussetzen. Doch die Leica wurde ein Erfolg, ermöglichte den modernen Bildjournalismus und sollte so die Fotogeschichte entscheidend beeinflussen. Der Text zeichnet diese Entwicklung technikgeschichtlich nach.
Wer im 19. Jahrhundert außerhalb des Ateliers fotografierte, war mit großem Gepäck unterwegs: Kamera, Objektive, Stativ und Glasplatten passten jedenfalls nicht in die Umhängetasche. Die Glasplatten wurden zwar nach und nach vom deutlich leichteren Film abgelöst, die Kameras blieben jedoch unhandlich. Zumindest, bis Kodak 1888 die Boxkamera auf den Markt brachte und mit dem Spruch »You press the button – we do the rest« die ›Fotografie für alle‹ etablierte. [1] Die Box war einfachst ausgestattet und die Qualität der Negative genügte trotz des breiten Rollfilms keinen hohen Ansprüchen; zudem war die Box zwar klein und handlich, jedoch noch nicht westentaschentauglich.
1913 begann Oskar Barnack – Hobby-Fotograf und als Feinmechaniker bei der Firma Leitz in Wetzlar für Mikroskope zuständig – mit dem Entwurf einer kleinen Kamera, die dennoch hohen Ansprüchen an die Bildqualität genügen sollte. Er konstruierte seine Kamera konsequent um den damals schon fürs Kino genutzten 35 mm breiten beidrandig perforierten Normalkinefilm herum. [2] Als Negativformat legte er 36 × 24 mm fest, heute noch das ›Kleinbildformat‹. [3] Damit die Kamera westentaschentauglich wurde, sah er ein fest montiertes, aber versenkbares Objektiv vor (Brennweite ca. 50 mm) und einen Schlitzverschluss im Kameragehäuse (Belichtungszeiten von 1⁄25 s bis 1⁄500 s) statt des damals üblichen im Objektiv eingebauten Zentralverschluss'. [4] Sein Prototyp ›Liliput‹, die sog. Ur-Leica (›Leitz Camera‹), maß denn auch nur 128 × 53 × 28 mm. [5]
Da beim Vergrößern der Bilder eines so kleinen Negativs alle Fehler des Kameraobjektivs verschärft zu Tage treten, musste das Objektiv für die Leica deutlich besser sein als damals üblich. Dessen im Zeitalter des Rechenschiebers aufwendige Berechnung übernahm Max Berek, ebenfalls Leitz-Mitarbeiter aus der Mikroskop-Entwicklung. So entstand der Leitz-Anastigmat 3.5/50 mm, ein ›Normalobjektiv‹, das zum legendären Elmar weiterentwickelt wurde. Dies begründete die Tradition hervorragender Kleinbild-Objektive, die von der Firma bis heute gepflegt wird und ohne die die anhaltende Leica-Begeisterung kaum erklärbar ist.
Verzögert durch den Ersten Weltkrieg und dessen Folgen, startete der Verkauf der Leica I (Modell A) vor 100 Jahren mit der Leipziger Frühjahrsmesse 1925. Damit war die Erfindung der Kleinbildfotografie endgültig in der Welt. Diese mutige unternehmerische Entscheidung des Firmenpatriarchen Ernst Leitz II (als echter Unternehmer hielt er sich nicht an den ablehnenden Rat seiner Manager: »Ich entscheide hiermit: Es wird riskiert«) [6] erschloss seiner Firma einen neuen Markt, prägte den modernen Bildjournalismus, eröffnete der Tier- und Sportfotografie neue Perspektiven und sollte so die Fotogeschichte entscheidend beeinflussen. Viele heute ikonische Fotos wurden durch Kleinbildkameras erst möglich: Ilse Bing, laut Gisèle Freund (auch sie eine Leica-Fotografin) die »Queen of the Leica« [7], Robert Capa (der seine Leica allerdings 1937 an Greta Taro weitergab, um fürderhin mit der Contax und der Rolleiflex zu fotografieren) [8], Henri Cartier-Bresson, Jewgeni Chaldej, Alfred Eisenstaedt, Thomas Hoepker und Erich Salomon sind nur einige der herausragenden Dokumentarfotografïnnen, die mit einer Leica unterwegs waren. Und auch heute noch gibt es arbeitende Fotografïnnen, die zu dieser Marke greifen, beispielsweise Barbara Klemm, Herlinde Koelbl oder Ed Templeton.
Anfangs gab es noch keine konfektionierten Filmpatronen zu kaufen, man musste den Film im Dunkeln selbst von Rollen (Meterware) ab- und zum Einlegen in die Leica zurechtschneiden und in spezielle Kassetten einspulen [9] (es gab eine Schnittmuster-Schablone) [10]. Das änderte sich 1934, als mit der Retina I die erste Kodak-Kamera für den Kleinbildfilm auf den Markt kam – entwickelt von August Nagel in Stuttgart, dessen Kamerafabrik Kodak gekauft hatte. Für die Retina I entwickelte Kodak die noch heute gebräuchliche Kleinbildpatrone Typ 135, die im Hellen in die Kamera eingelegt werden kann und die seither in Myriaden von Kameras verwendet wurde und weiterhin wird. [11]
Leitz in Wetzlar und Zeiss in Jena waren nicht die einzigen Firmen, die im frühen 20. Jahrhundert die Entwicklung der Kameratechnik vorantrieben. Wichtig waren beispielsweise Heinz Kilfitt mit der motorisierten Robot (1931, produziert ab 1934 von Otto Berning in Düsseldorf) [12] und die Ernemann-Werke in Dresden (ab 1926 zu Zeiss Ikon), die noch vor dem Auftritt der Leica die Ermanox in verschiedenen Varianten herausbrachte: kleine Kameras mit Schlitzverschlüssen und hochlichtstarken 2.0/100 mm-Objektiven (das Ernostar, gerechnet von Ludwig Bertele, der später für Zeiss auch das Sonnar und das Biogon entwickelte). Damit waren Momentaufnahmen in Innenräumen möglich, allerdings nur auf einzelne Platten bzw. Planfilme. Gegenüber der Leica war die Kamera unhandlich, die Produktion wurde 1930 bereits wieder eingestellt. Herausragender Ermanox-Nutzer war der Fotograf Erich Salomon, der mit dieser Kamera das damalige politische und kulturelle Geschehen dokumentierte, später jedoch auch zur Leica wechselte. [13], [14], [15], [16]
Die Leica I hatte noch keinen integrierten Entfernungsmesser und das Objektiv war fest verbaut (integrierte Belichtungsmesser waren damals noch kein Thema), doch schnell wurde die Kamera zum System weiterentwickelt: 1927 wurde der erste Leitz-Vergrößerer vorgestellt und schon die Leica II kam 1932 mit eingebautem Entfernungsmesser [17] und Wechselobjektiven (39 mm Schraubgewinde); alle folgenden Varianten der Serien II und III sind Varianten davon. [18] Diese Serie der ›Schraubleicas‹ wurde bis 1960 produziert; die letzte Inkarnation war die Leica IIIg. Es war damals auch durchaus üblich, eine ältere Leica bei Leitz aufrüsten zu lassen.

Foto: Dohm; StadtA Rt. S 105/5 D Nr. 888
Aber die Konkurrenz hat nicht geschlafen: Zeiss Ikon brachte ab 1932 die Contax I mit ebenfalls hervorragenden Objektiven (z. B. Sonnar 1.5/5 cm) heraus, [19] deren Weiterentwicklung als Contax II 1936 dann die Leica durch ihren integrierten Messsucher [20] sogar technisch überflügelte (Robert Capa fotografierte mit dieser Kamera 1944 die Landung der Alliierten in der Normandie) [21]. Leitz hatte jedoch den längeren Atem (und die m. E. bessere Designabteilung) und überarbeitete nach dem Krieg das Leica-Kamerasystem grundlegend – beginnend mit der Leica M3 (1954).

Foto: Martin Frech, 8/2025

Foto: Martin Frech, 8/2025

Foto: Martin Frech, 8/2025

Foto: Martin Frech, 8/2025
Der akkurate Messsucher (dafür das ›M‹) und ein präziser Bajonettanschluss für die Objektivbefestigung statt des Schraubgewindes sind neben dem überarbeiteten Design die Hauptunterschiede der M-Serie zur Leica III. Das Konzept ist so überzeugend, dass es noch im Digitalzeitalter Bestand hat: Nicht nur sehen die aktuellen digitalen M-Leicas von Weitem so aus wie die analogen vor 70 Jahren, auch können alle Leica-Objektive noch an diesen verwendet werden.
Die deutsche Kameraindustrie war weltweit führend, bis in den 1970er-Jahre die Nachfrage nach elektronifizierten Kameras zunahm. Das konnten die deutschen Hersteller nicht liefern und so übernahmen japanische Hersteller den Weltmarkt. Trotz kritischer Phasen in der Firmengeschichte ist die Leica Camera AG (Wetzlar) der letzte verbliebene deutsche Kleinbildkamera-Hersteller. [22]
1 | ↑ Gustavson, Todd: Camera ; A History of Photography from Daguerreotype to Digital. New York: Sterling, 2009. ISBN 978-1-4027-5656-6. S. 129 ff. |
2 | ↑ Oskar Barnack war nicht der erste, der auf diese Idee kam – keiner seiner ›Konkurrenten‹ hatte jedoch nachhaltigen Erfolg; vgl. Was vor der Leica war. Online: ↱ cameramuseum. |
3 | ↑ Warum sich Oskar Barnack für dieses Format entschied, bleibt ebenso Spekulation, wie die Frage, warum er sich für die 42 mm- (Urleica) bzw. 50 mm-Brennweite entschied. Erwin Puts diskutiert plausible Gründe für beides in: Puts, Erwin: Leica compendium ; Company, Cameras, Lenses. 3. Aufl. Houten (NL): imX/ |
4 | ↑ Als Ausnahmen gab es 1926 zwei Compur-Leicas, der längeren Verschlusszeiten wegen; vgl. Abring, H. D.: Von Daguerre bis heute [Bd. 2]. Herne: Abring Buchverlag und Foto-Museum, 1989. ISBN 3-927666-00-9. S. 220 ff. Dort sind auch viele weitere Leica-Varianten abgebildet. |
5 | ↑ Lüpkes, Sandra: Das Licht im Rücken. Hamburg: Rowohlt, 2023. ISBN 978-3-499-00665-4. S. 9 |
6 | ↑ So sagt er es 1951 in einem Radiointerview. In: Claus Bredenbrock: Leica-Fabrikant: Wie Kriegsgewinnler Ernst Leitz Juden zur Flucht verhalf. ZDFinfo Dokus & Reportagen. 24.01.2024. (Video auf YouTube; 26:04–26:37) Online: ↱ youtube- |
7 | ↑ Lemke, Kristina: Queen of the Leica. 08.10.2021. Online: ↱ stories. |
8 | ↑ Pantke, Thomas: Capas Kameras. Online: ↱ capahausblog. |
9 | ↑ ausführlich in: Stüper, Josef: Die photographische Kamera. Wien: Springer, 1962 (= Die wissenschaftliche und angewandte Photographie; 2) S. 332 ff. |
10 | ↑ Nattenberg, Olaf: ABLON: Schneiden – aber richtig! In: PhotoDeal (2013), Nr. III. S. 38 f |
11 | ↑ Gustavson, a. a. O., S. 176 u. 353 |
12 | ↑ Gustavson, a. a. O., S. 261 |
13 | ↑ Die Ermanox im Schatten des politischen Geschehens. Online: ↱ cameramuseum. |
14 | ↑ Gustavson, a. a. O., S. 217 f |
15 | ↑ Erich Salomon ; Der unsichtbare Photograph ; Ermanox-Aufnahmen 1928 bis 1932 ; Erster Band. Ausgew. von Reinhard Kaiser; Vorwort von Janos Frecot. Nördlingen: Greno, 1988 (= Greno 10/20; 67) ISBN 3-89190-867-9. |
16 | ↑ Erich Salomon ; Lichtstärke ; Ermanox-Aufnahmen 1928 bis 1932 ; Zweiter Band. Ausgew. von Reinhard Kaiser. Nördlingen: Greno, 1988 (= Greno 10/20; 71) ISBN 3-89190-871-7. |
17 | ↑ Das war aber noch kein Messsucher; es gab weiterhin zwei Sucher: Durch den rechten wurde scharfgestellt und durch den linken der Bildausschnitt bestimmt. |
18 | ↑ Puts, a. a. O., S. 208 ff. |
19 | ↑ Gustavson, a. a. O., S. 175 ff. |
20 | ↑ Der Messsucher ist ein mit der Scharfstellvorrichtung des Aufnahmeobjektivs gekoppelter optischer Sucher durch den sowohl der Bildausschnitt bestimmt, als auch die Entfernung zum Motiv eingestellt wird. Zum Thema ›Sucher‹ ausführlich: Stüper, Josef: Die photographische Kamera. Wien: Springer, 1962 (= Die wissenschaftliche und angewandte Photographie; 2) S. 258 ff. |
21 | ↑ D-Day and the Omaha Beach Landings. Online: ↱ magnumphotos. |
22 | ↑ ↱ leica- |
Weiterlesen:
Lüpkes, Sandra: Das Licht im Rücken. Hamburg: Rowohlt, 2023. ISBN 978-3-499-00665-4