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»Un­beug­sam und un­ge­bän­digt: Do­ku­men­ta­ri­sche Fo­to­gra­fie um 1979«, Mu­se­um Lud­wig, Köln (Aus­stel­lung)

Martin Frech

Über den Ti­tel die­ser Aus­stel­lung habe ich – ob sei­ner Kom­ple­xi­tät – lan­ge nach­ge­dacht. In so we­ni­gen Wörtern so viel zu ver­pa­cken, das ist schon ei­ne Kunst für sich.

beu­gen: beuge, beugst, beugt, beu­gen, beugt, beu­gen; ein schwa­ches Verb.
Neben den ei­gent­li­chen Be­deu­tun­gen wie krüm­men, nei­gen oder bie­gen, wird das Wort auch gerne ge­braucht im Sinne von sich fü­gen, nach­ge­ben, sich un­ter­werf­en; aber auch für sich un­ter­tan ma­chen, Druck aus­üben oder be­zwin­gen.
In der Sprach­wis­sen­schaft ken­nen wir beu­gen als flek­tie­ren: es steht für das Ab­wan­deln ei­nes Wortes in sei­nen gram­ma­ti­schen For­men.

Das Ad­jek­tiv beug­sam steht laut Duden für be­reit, un­ter Druck nach­zu­ge­ben, sich zu fü­gen.
Un­beug­sam be­deu­tet dem­ent­spre­chend sich nicht durch je­man­den in sei­ner Hal­tung be­ein­flus­sen las­send.

Aber gibt es denn ei­ne »beug­sa­me« Fo­to­gra­fie? Ist das ein bieg­ba­rer Fo­to­ab­zug? Ich stelle mir ei­nen un­kaschier­ten Ab­zug vor, den ich bie­gen kann; die »un­beug­same« Fo­to­gra­fie wä­re dann bei­spiels­wei­se auf Hart­fa­ser­plat­te auf­ge­zo­gen.

Oder ist »beug­sa­me« Fo­to­gra­fie, die­je­ni­ge, die un­ter (po­li­ti­schem) Druck ent­steht; bzw. her­ge­stellt wird von ei­nem Fo­to­gra­fen, der sich un­ter­wirft – und etwa die Ver­ant­wor­tung für sei­ne Bild­er­zeug­nis­se ab­gibt an den kom­mer­ziel­len oder po­li­ti­schen Auf­trag­ge­ber?

Wohl Letz­te­res. Ich ver­ste­he den Ti­tel so, dass er auf die Hal­tung der Bild­au­to­ren an­spielt: Vor allem im Kon­text »1979« weist uns das Ad­jek­tiv »un­beug­sam« da­rauf hin, dass in der Aus­stel­lung Au­to­ren­fo­to­gra­fie (Honnef, 1979) ge­zeigt wird. Also Ar­bei­ten von selbst­be­wuss­ten (Bild-)Au­to­ren, die ih­re Werke ei­gen­ver­ant­wort­lich (ethi­scher Stand­punkt) und mit ei­ner ei­ge­nen Bild­spra­che (äs­the­ti­scher Stand­punkt) an­fer­tig­ten.

bän­di­gen: bän­di­ge, bän­digst, bän­digt, bän­di­gen, bän­digt, bän­di­gen; auch ein schwa­ches Verb. Es be­deu­tet – um es kurz zu ma­chen –, et­was oder je­man­den trotz star­ken Wi­der­stan­des un­ter sei­nen Wil­len zwin­gen.

Un­ge­bän­digt ist schon schwe­rer zu fas­sen. Im Kon­text des Aus­stel­lungs­ti­tels könn­te es für un­ge­zähmt oder wild ste­hen. Tut es auch, aber in ei­nem über­tra­ge­nen Sinne.

Denn 1980 er­schien in Paris der Es­say La cham­bre claire. Note sur la pho­to­gra­phie. von Roland Barthes. (Die deut­sche Über­set­zung er­schien 1985 bei Suhr­kamp un­ter dem Ti­tel Die hel­le Kam­mer. Be­mer­kung zur Pho­to­gra­phie.) Da­rin un­ter­schei­det der Au­tor zwei viel zi­tier­te Wir­kungs­ar­ten von Fo­to­gra­fie, das »studium« und den »punctum«. In der Les­art der Aus­stel­lungs­macher­in Barbara Engelbach er­ge­ben sich da­raus zwei Um­gangs­wei­sen mit Fo­to­gra­fie: ih­re äs­the­ti­sche Zäh­mung (Kunst) so­wie das Zu­las­sen ih­rer un­ge­bän­dig­ten Wir­kung (Ab­bild der Re­al­ität).

Das un­ge­bän­digt in der Über­schrift zur Aus­stel­lung ver­weist also auf das Barthes-Zi­tat vom »Er­wa­chen der un­beug­sa­men Re­al­ität« im Me­di­um der Fo­to­gra­fie.

(Dass sich »studium« vs. »punctum« bzw. Kunst vs. Wir­kung nicht wi­der­spre­chen müs­sen, ist klar; ge­ra­de hier kann die Fo­to­gra­fie ja ih­re Stär­ke aus­spie­len.)

So­viel zu den vor­an­ge­stel­lten Ad­jek­ti­ven. Doch was ist »Do­ku­men­ta­ri­sche Fo­to­gra­fie«? Da die De­fi­ni­ti­ons­leis­tung die­ser Be­zeich­nung ja eher ge­ring ist, muss ich wie­der et­was aus­ho­len.

Jede Fo­to­gra­fie (ich lasse die Kon­kre­te Fo­to­gra­fie jetzt mal au­ßen vor) ver­weist auf et­was vor der Ka­me­ra ge­we­se­nes und ist damit immer auch ein Do­ku­ment. Zu­min­dest wenn man auf den mit­tel­latei­ni­schen Ur­sprung des Be­griffs zu­rück­geht: ein documentum ist ein Be­weis, es kann et­was er­hel­len.
Das gilt si­cher un­ab­hängig von den Ent­ste­hungs­be­din­gun­gen des Fotos, wes­we­gen das »do­ku­men­ta­risch« im Aus­stel­lungs­ti­tel wohl nicht als Ab­gren­zung zu ei­ner – wie auch immer ge­mein­ten – künst­le­ri­schen Fo­to­gra­fie zu ver­ste­hen ist.
(Im Ge­gen­teil – und eher Thomas Weski fol­gend, der er­klär­te, Fo­to­gra­fie im do­ku­men­ta­ri­schen Stil sei ei­ne künst­le­ri­sche Fo­to­gra­fie mit den Mit­teln des Do­ku­men­ta­ri­schen.)

Hilf­reich für mich sind hier die De­fi­ni­tio­nen von Timm Starl (in Bu­tins »Be­griffs­lexi­kon zur zeit­ge­nös­si­sch­en Kunst«) und Abigail Solomon-Godeau (in Wolfs »Dis­kurse der Fo­to­gra­fie«).

Starl un­ter­schei­det zwi­schen der ar­chi­va­li­schen, der do­ku­men­ta­ri­schen und der kon­zep­tu­ellen do­ku­men­tar­fo­to­gra­fie. Der ar­chi­va­li­sche An­satz ist da­bei ein en­zy­klo­pä­di­scher und beim kon­zep­tu­ellen geht es eher um die Ges­te. Mit do­ku­men­ta­ri­scher Do­ku­men­tar­fo­to­gra­fie meint Starl ei­ne Fo­to­gra­fie, die von den In­te­res­sen der Fo­to­gra­fen, ihren Stim­mungen und ihren Er­fahr­un­gen ge­lei­tet ist.

Für Solomon-Godeau ist do­ku­men­ta­ri­sche Fo­to­gra­fie klar his­to­risch ver­or­tet und hat sprach­li­che so­wie kul­tu­rel­le Be­zü­ge. Wich­tig ist ihr, sich beim Be­trach­ten der Bil­der deren sub­jek­ti­ven Ent­ste­hungs­be­din­gun­gen be­wusst zu sein: Die Bil­der las­sen sich nicht uni­ver­sa­lis­tisch lesen. Do­ku­men­ta­ri­sche Fo­to­gra­fie hat also Be­kennt­nis-Cha­rak­ter.

Ab­schlie­ßend ver­or­tet der Aus­stel­lungs­ti­tel die Schau zeit­lich: »um 1979«.
Barbara Engelbachs Aus­gangs­punkt war Roland Barthes Buch, das in je­ner Zeit ent­stand. Sie wollte in ih­rer Aus­stel­lung Bil­der zei­gen, die zur Ent­ste­hungs­zeit des Textes fo­to­gra­fiert wurden. Aber na­tür­lich nicht irgend­welche Bil­der.

Barbara Engelbach sieht die 1970er-Jahre (mit Eric Hobs­bawm) als Kri­sen­jahre, in de­nen sich die Welt ver­änd­er­te. Das ist nach­voll­zieh­bar: Apart­heid (bis 1994), Vi­et­nam­krieg (bis 1975), Ost­po­li­tik (1970 Brandts Knie­fall in War­schau), Gei­sel­nah­me bei der Olym­pi­a­de 1972, mei­ne Ein­schu­lung (1972), Gast­ar­bei­ter (An­wer­be­stop 1973), Öl­kri­se 1973/74 (da­rauf­hin die Anti-Atom­kraft-Be­we­gung), Wa­ter­gate- und Guil­laume-Af­fä­ren (bei­de 1974), Deut­scher Herbst (1977), Re­vo­lu­tion im Iran, das En­de von Somozas Re­gime in Ni­ca­ra­gua und der Be­ginn des sow­je­tisch-af­gha­ni­schen Kriegs (al­les 1979), NATO-Dop­pel­be­schluss (1979, da­rauf­hin Ent­ste­hen der neuen, brei­ten Frie­dens­be­we­gung, die in den frühen 1980er-Jahren ei­ne große öf­fent­li­che Wir­kung er­ziel­te), Grün­dung der Par­tei »Die Grü­nen« und erster Golf­krieg (1980), AIDS wird als ei­gen­stän­di­ge Kran­kheit er­kannt (1981), Michail Gor­bat­schow wird Ge­ne­ral­se­kre­tär der KPdSU (1985), Glas­nost (1986), Atom­reak­tor-Ka­ta­stro­phe in Tscher­no­byl (1986), Pe­res­t­roi­ka (1987).

Viel Stoff also zum Fo­to­gra­fie­ren. Doch was se­hen wir in der Aus­stel­lung – außer Wer­ken von Ro­bert Adams, wie uns schon das Pla­kat verrät?

Ausstellungsplakat zur Ausstellung ›Dokumentarische Fotografie um 1979‹ an der Außenfassade des Museum Ludwig in Köln. (Foto: Martin Frech, 9/2014)
Mu­se­um Lud­wig: ›Do­ku­men­ta­ri­sche Fo­to­gra­fie um 1979‹, Aus­stel­lungs­pla­kat au­ßen (Foto: Mar­tin Frech, 9/2014)
Ausstellungsplakat zur Ausstellung ›Dokumentarische Fotografie um 1979‹ an der Außenfassade des Museum Ludwig in Köln. (Foto: Martin Frech, 9/2014)

Un­beug­sam und un­ge­bän­digt: do­ku­men­ta­ri­sche Fo­to­gra­fie um 1979 – un­ter diesem Ti­tel wer­den in Köln 14 fo­to­gra­fi­sche Serien von 13 Fo­to­gra­fin­nen und Fo­to­gra­fen ge­zeigt (die Nothhelfers zähle ich hier als Ein­heit) und nach der do­ku­men­ta­ri­schen Hal­tung der Au­to­ren be­fragt (auf­zei­ch­nen vs. sicht­bar ma­chen im Barthes’schen Sinne, s⁠.⁠ ⁠o⁠.). Da sich die­se Hal­tung auch im Ge­brauch der Fotos zeigt, wer­den zu je­der Ar­beit fünf Fra­gen auf Text­ta­feln be­ant­wor­tet, u⁠.⁠ ⁠a⁠. in wes­sen Auf­trag die Auf­nah­men ent­stan­den und wo sie erst­ver­öf­fent­licht wurden.
ver­tre­te­ne Po­si­ti­on­en:

Da­vid Gold­blatt fo­to­gra­fier­te sei­ne Se­rie im Auf­trag ei­ner Stif­tung als Bild­be­richt zu ei­ner Armuts-Stu­die in Süd­af­ri­ka. Alle an­de­ren ge­zeig­ten Ar­bei­ten ent­stan­den auf Ei­gen­in­i­ti­a­ti­ve der Künst­ler. Jour­na­lis­ti­sche Ar­bei­ten sind in der Aus­stel­lung nicht ver­tre­ten (Ute Klop­haus be­wegt sich, denke ich, in ei­nem Grenz­be­reich). In­so­fern wä­re – um noch ein Mal auf den Ti­tel zu­rück­zu­kom­men – »Fo­to­gra­fie im do­ku­men­ta­ri­schen Stil« (Evans, 1971) prä­zi­ser ge­we­sen als Über­schrift denn »Do­ku­men­ta­ri­sche Fo­to­gra­fie«.

Was waren die Kri­te­rien für Aus­wahl?
Si­cher­lich der Ent­ste­hungs­zeit­punkt, »um 1979«. Wir se­hen al­ler­dings Werk­kom­plexe, die zwi­schen 1969 und 1987 ent­stan­den sind – das »um« ist also eher groß­zü­gig aus­ge­legt.
Die Ar­bei­ten sollten laut Pres­se­mit­tei­lung zu­dem in der Aus­ei­nan­der­set­zung mit dem aus den Krisen re­sul­tie­ren­den »glo­ba­len Wan­del« der 1970er/1980er-Jahre ent­stan­den sein.
Au­ßer­dem waren of­fen­bar Serien ge­fragt, kei­ne Ein­zel­bilder.

Wa­rum wer­den man­che Serien kom­plett ge­zeigt und aus an­de­ren nur Aus­zü­ge? So schön es ist, die Kom­plexe von Adams oder Ruff kom­plett zu se­hen, ist es doch scha­de, dass die Nothhelfers oder Jo­a­chim Brohm nur mit so we­ni­gen Bil­dern ver­tre­ten sind.

Wei­te­re Kri­te­rien? Ich weiß es nicht – im­mer­hin bin ich nicht mit In­si­der-In­for­ma­ti­on­en aus­ge­stat­tet, sondern schrei­be hier aus mei­ner Be­su­cher-Per­spek­ti­ve.
Viel­leicht ei­ne re­gio­na­le Viel­falt? Die Hälf­te der Serien »spielt« nicht in Deutsch­land.
Viel­leicht die Er­reich­bar­keit der Ar­bei­ten? Bis auf vier Serien (die Ar­bei­ten von Gold­blatt, Ishi­uchi und Singh so­wie Mikhailovs »Rote Se­rie«) stam­men die ge­zeig­ten Ar­bei­ten aus den ei­ge­nen Mu­se­um-Lud­wig-Be­stän­den. (Die Ku­ra­to­rin nennt den Ka­ta­log auch ei­nen »Bei­trag zur Auf­ar­bei­tung der Samm­lung«.)

Es ist klar, dass Barbara Engelbach trotz des Be­zugs auf die Kri­sen­jahre um 1979 kei­ne Ge­schichts­aus­stel­lung zei­gen wollte. Und wohl auch kei­ne po­li­ti­schen Ar­bei­ten – oder wa­rum fehlt bei­spiels­wei­se der de­zi­diert po­li­ti­sche Allan Se­ku­la (* 1951, † 2013), der so­wohl als Fo­to­graf als auch als The­o­re­ti­ker des Do­ku­men­ta­ri­schen nach­hal­tig her­vor­ge­tre­ten ist?

Aus­nah­men sind Sanja Ive­ko­vić’ »Tri­an­gle«, die Do­ku­men­ta­ti­on ei­ner Per­for­mance, mit der die Künst­le­rin ge­zielt die ju­go­sla­wi­sche Po­li­zei pro­vo­zier­te (aber eben nicht mit den Fotos, die mir die Ak­ti­on ohne den Text nicht ver­mit­teln), und even­tu­ell Da­vid Gold­blatts Nacht­auf­nah­men über Le­bens­be­din­gun­gen im Apart­heid­re­gime. Auch wenn mich Ruffs Por­traits re­gel­mäßig an das da­mals über­all zu sehende RAF-Fahn­dungs­pla­kat er­innern (»Anar­chis­ti­sche Ge­walt­tä­ter – Baader/Mein­hof-Ban­de –«; in­nen­po­li­tisch fin­det in den Jahren um 1979 der Über­gang von der ersten zur zwei­ten Ge­ne­ra­tion der RAF statt), ist das in mei­nen Augen kei­ne po­li­ti­sche Ar­beit. (Ger­hard Rich­ter hat sei­nen RAF-Zy­klus übri­gens erst 1988 ge­malt.)

Ei­gen­ar­tig finde ich, dass Barbara Engelbach die DDR-Fo­to­gra­fie kom­plett au­ßen vor lässt [gut ge­passt hätten bei­spiels­wei­se Ar­bei­ten von Eve­lyn Rich­ter (* 1930) oder die »Fäh­re« (1979 – 1981) von Hel­fried Strauß (* 1943)].
Ver­misst habe ich auch den Krisen-Do­ku­men­tar Eugene Smith (* 1918) (⁠ ⁠über den ich hier schon ge­schrieben habea), doch der ist ja be­reits 1978 ge­stor­ben. Viel­leicht ar­bei­te­te er, der Er­fin­der des Foto-Essays, auch zu jour­na­lis­tisch für diesen Kon­text. Aber wä­re das ein Aus­schluss­kri­te­ri­um?

Und was er­zäh­len die Bil­der über die »Krisen« bzw. den »glo­ba­len Wan­del«, mit­hin Stich­wort­ge­ber der Aus­stel­lung?
So direkt – gar nichts. Wie auch? Fotos sind no­to­risch schwach ko­diert, um sie zu lesen und im Sinne des Autors zu ver­ste­hen, brau­chen wir den Kon­text und die Ge­schich­te ih­rer Ent­ste­hung; das wuss­te schon Brecht.

Ich greife ein Bei­spiel he­raus, analog gilt das für alle in der Aus­stel­lung ver­sam­mel­ten Ar­bei­ten.

Ro­bert Adams zeigt uns mit »Our Lives and Our Child­ren« ano­nyme Kinder, Er­wach­se­ne und Autos auf Park- und an­de­ren Plät­zen. Die Fotos sind schwarz­weiß, kon­trast­reich und leicht von un­ten auf­ge­nom­men, ge­le­gent­lich schief ka­driert, manch­mal un­scharf – ohne Sta­tiv auf­ge­nom­me­ne Schnapp­schüsse aus dem All­tag.
Die Autos, die Klei­dung usw. ge­ben uns un­ge­fäh­re Hin­weise auf die Ent­ste­hungs­zeit. Die Orte sind nicht zu fas­sen, es scheint sich häu­fig um Park­plät­ze zu han­deln. Aus den Ge­sich­tern, die immer an der Ka­me­ra vor­bei­schau­en, kann man al­les mög­li­che he­raus­le­sen.

Ein wich­ti­ges The­ma der 1970er-Jahre war die ato­ma­re Be­dro­hung – so­wohl durch die zi­vi­le, als auch die mi­li­tä­ri­sche Nut­zung der Atom­kraft. Die ers­te Öl­kri­se (1973/74) be­för­der­te welt­weit den Aus­bau der Atom­wirt­schaft, der NATO-Dop­pel­be­schluss von 1979 die ato­ma­re Auf­rüs­tung. In den Atom­an­la­gen kommt es immer wie­der zu »Stör­fäl­len«; zu­dem ent­wei­chen auch im Nor­mal­be­trieb häu­fig ra­dio­ak­ti­ve Sub­stan­zen. Am 28. März 1979 kam es im neu er­bau­ten Atom­kraft­werk »Three Mile Is­land Nu­cle­ar Gen­er­ating Sta­tion« (bei Harris­burg/Penn­syl­va­nia in den USA) zu ei­ner Teil-Kerns­chmel­ze – ein GAU, der bis heu­te nach­wirkt. (Die Ka­ta­stro­phe von Tscher­no­byl er­eig­ne­te sich sie­ben Jahre spä­ter am 26. April 1986.)

Die­se The­ma­tik ist die Klam­mer für Ro­bert Adams’ in der Aus­stel­lung ge­zeig­te Ar­beit. In Den­ver/Co­lo­ra­do fo­to­gra­fier­te er Men­schen, u⁠.⁠ ⁠a⁠. auf Park­plät­zen von Ein­kaufs­zent­ren. Er ar­bei­te­te im Stil der »street pho­tog­ra­phy«, mit ei­ner – bei­spiels­wei­se hinter ei­ner Ein­kaufs­tüte – ver­steck­ten Has­sel­blad SW.
In der Nä­he sei­ner Schau­plät­ze befand sich die skan­dal­träch­ti­ge Atom­waf­fen­fa­brik »Rocky Flats nu­cle­ar weap­ons plant« (in Be­trieb von 1952 – 1992), in der Plu­to­ni­um ver­ar­bei­tet – und frei­ge­setzt – wur­de.
1984 er­schie­nen Adams Bil­der im Buch »Our Lives and Our Child­ren: Pho­to­graphs Taken near the Rocky Flats Nu­cle­ar Weap­ons Plant«.

Kon­text der Fo­to­serie ist also die ato­ma­re Be­dro­hung. Mit diesem Wis­sen kann man die Ge­sich­ter an­ders deu­ten. Es ist dann nach­zu­voll­zie­hen, dass Adams mit sei­nen Fotos auf ei­ne un­sicht­ba­re Be­dro­hung hin­wei­sen wollte. Wä­re die ein­ord­nen­de Er­zäh­lung ei­ne an­de­re, wür­de ich et­was völ­lig an­de­res aus diesen Bil­dern lesen.
Adams sub­ti­les Vor­ge­hen ist ei­ne Art des Um­gangs mit dem The­ma.

In den 1970er-Jahren ent­wick­el­te sich auch hier­zu­lan­de die Anti-Atom­kraft-Be­we­gung. Jo­a­chim Radkau hat sie ein­mal als den größ­ten und ge­dan­ken­reichs­ten öf­fent­li­che Dis­kurs der Bun­des­re­pu­blik be­zeich­net. Gün­ter Zint (*1941) ist ei­ner ih­rer Chro­nis­ten; er hat die Sze­ne jah­re­lang als Ak­ti­vist mit der Ka­me­ra be­glei­tet (»Gegen den Atom­staat«).
Zints Me­tho­de ist ei­ne an­de­re Art des Um­gangs mit dem The­ma. Für mich wä­re es span­nend ge­we­sen, Adams’ und Zints Bil­der pa­ral­lel zu se­hen.

Es ist gut, dass Text­ta­feln die Fotos kon­tex­tu­a­li­sie­ren – ein zarter di­dak­ti­scher An­satz. Für mei­nen Ge­schmack dürf­ten die Texte aus­führ­li­cher sein; schön wä­re auch ein »Ap­pa­rat« pa­ral­lel zur Aus­stel­lung ge­we­sen. (In diesem Sinne ar­gu­men­tier­te ja auch Mar­kus Scha­den mit sei­ner tem­po­rär­en In­s­tal­la­ti­on »The Photo­Book­Museum«.)

Ei­ne Ent­de­ckung war für mich der Fo­to­graf Karl C. Ku­gel. Sei­ne Bil­der ei­ner Deutsch­land­reise vom Früh­jahr 1983 (»um 1979«!) haben mich eben­so be­geis­tert wie die Prä­sen­ta­ti­on auf Le­se­pul­ten. Die Mög­lich­keit, die­se Ar­beit direkt mit Mikhailovs »Se­rie von vier« zu ver­glei­chen, fand ich span­nend.

Was die­se Aus­stel­lung für mich au­ßer­dem se­hens­wert macht, ist das Ne­ben­ein­an­der so un­ter­schied­lich­er Aus­drucks­wei­sen für ähn­li­che The­ma­ti­ken. Die Por­traits der Nothhelfers und die von Derek Bennet, den ich im üb­ri­gen auch noch nicht kann­te; Höfers eher sel­ten ge­zeig­te Ar­beit in Nach­bar­schaft zu Brohms Land­schaf­ten oder Singhs Bil­dern aus Kal­kut­ta und Mikhailovs »Rote Se­rie«.

Von Karl C. Ku­gel wür­de ich gerne mehr Fotos se­hen und wis­sen, wie er nach diesem Früh­werk wei­ter­ge­ar­bei­tet hat. Doch mei­ne Re­cher­chen sto­cken; er ist we­der in Koetzles Fo­to­gra­fen­lexi­kon ein­ge­tra­gen (gut, das sagt noch nichts, dort feh­len viele), noch habe ich via In­ter­net sub­s­tan­zi­el­les ge­fun­den.
Weiß je­mand mei­ner Le­ser mehr? Über Kom­men­ta­re freue ich mich!

Der Ka­ta­log (Deutsch/Eng­lisch) ist bei Snoeck er­schie­nen. Neben ei­nem ein­füh­ren­den Text der Ku­ra­to­rin Barbara Engelbach wird jede der in der Aus­stel­lung ge­zeig­ten Ar­bei­ten mit aus­ge­wähl­ten Bil­dern vor­ge­stellt. Un­ter­schied­liche Au­to­ren haben da­zu je­weils kurze Texte ver­fasst.

Um 1979 – Un­beug­sam und un­ge­bän­digt: Do­ku­men­ta­ri­sche Fo­to­gra­fie um 1979. Ausst.-Kat. Mu­se­um Lud­wig 2014. Hg. von Barbara Engelbach. Köln: Snoeck, 2014. 192 S. ISBN 978-3-86442-102-0


Fußnoten.
ahttps://www.medienfrech.de/foto/NzF/2011-10-04_Martin-Frech_William-Eugene-Smith-ein-James-Joyce-der-Fotografie.html
Un­beug­sam und un­ge­bän­digt: Do­ku­men­ta­ri­sche Fo­to­gra­fie um 1979
Ku­ra­to­rin: Barbara Engelbach
Mu­se­um Lud­wig KölnHein­rich-Böll-Platz
50667 Köln
28.06. bis 05.10.2014, ver­län­gert bis 16.11.2014museum-ludwig.de/de/ausstellungen/unbeugsam-und-ungebaendigt.html
nun im Ar­chiv: ⁠ ⁠museum-ludwig.de/de/ausstellungen/rueckblick/2014/unbeugsam-und-ungebaendigt.html [2020-05-20]
Zitierempfehlung (.BibTeX, .txt):
Frech, Martin: »›Un­beug­sam und un­ge­bän­digt: Do­ku­men­ta­ri­sche Fo­to­gra­fie um 1979‹, Mu­se­um Lud­wig, Köln (Aus­stel­lung)«. In: Notizen zur Fotografie, 2014-11-10. Online: https://www.medienfrech.de/foto/NzF/2014-11-10_Martin-Frech_Unbeugsam-und-ungebaendigt-Dokumentarische-Fotografie-um-1979-Museum-Ludwig-Koeln-Ausstellung.html
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Frech, Martin: »›Un­beug­sam und un­ge­bän­digt: Do­ku­men­ta­ri­sche Fo­to­gra­fie um 1979‹, Mu­se­um Lud­wig, Köln (Aus­stel­lung)«. In: Notizen zur Fotografie, 2014-11-10. Online: https://www.medienfrech.de/foto/NzF/2014-11-10_Martin-Frech_Unbeugsam-und-ungebaendigt-Dokumentarische-Fotografie-um-1979-Museum-Ludwig-Koeln-Ausstellung.html$1