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Die Pha­se des Pic­to­ri­a­lis­mus in der Ge­schich­te der Fo­to­gra­fie

Martin Frech
Abstract.
Am ver­gan­ge­nen Frei­tag [16.05.2014] wur­de mit ei­ner Ver­nis­sa­ge die Aus­stel­lung mit Pla­tin­drucken von Claus Dieter Geissler (La­by­rin­the – Die Irr­we­ge der le­ben­den Toten) und Keiichi Ito (Gimen no shitade) er­öff­net (schael­pic pho­to­kunst­bar, Köln, 19.05. bis 31.08.2014). Zur Ein­führ­ung in die Aus­stel­lung habe ich über die Kunst­fo­to­gra­fen und Pic­to­ri­a­lis­ten ge­spro­chen.

Im Vor­trag zu unserer letz­ten Ver­nis­sa­ge im März habe ich die Tech­nik­ge­schich­te der Fo­to­gra­fie zu­sam­men­ge­fasst – vom Be­ginn im 18. Jahr­hun­dert bis zur Er­fin­dung der Kol­lo­dium­platte 1851 (⁠ ⁠Das Nasse Kol­lo­di­um­ver­fah­ren – ei­ne fo­to­his­to­ri­sche Verortunga).

Heu­te hö­ren Sie die Fort­set­zung, es wird al­ler­dings weniger tech­nisch.
Ich werde da­rü­ber re­den, wie die künst­le­risch in­te­res­sier­ten Fo­to­gra­fen des späten 19. Jahr­hun­derts mit den Ma­lern ih­rer Zeit kon­kur­rier­ten.

Das war ei­ne etwa 50 Jahre an­dau­ern­de Pha­se, in der die Fo­to­gra­fen sich be­müh­ten, ih­re Ab­zü­ge wie Ma­le­rei aus­se­hen zu las­sen – um so selbst als Künst­ler an­er­kannt zu wer­den.

Bis in die 1850er-Jahre hat­te sich die Fo­to­gra­fie zwar rasch eta­bliert, wur­de je­doch vor allem an­ge­wandt ge­nutzt: zu do­ku­men­ta­ri­schen Zwe­cken und für Por­traits.

Al­ler­dings gab es von An­fang an Fo­to­gra­fen, die die künst­le­ri­sche Qua­li­tät der Fo­to­gra­fie un­ter­such­ten. Heraus­ra­gend war der stu­dier­te Ma­ler Gustave Le Gray (1820–1884).

Das war je­doch ei­ne Min­der­hei­ten-Po­si­ti­on, denn die Fra­ge, die die Kunst­kri­ti­ker da­mals be­schäf­tig­te war die, ob ein Ap­pa­rat denn über­haupt Kunst pro­du­zie­ren könne.

Für viele war die Ant­wort klar – die Fo­to­gra­fie sei zwar pri­ma da­für ge­eig­net, Men­schen und Dinge exakt ab­zu­bil­den. Die Krea­tivi­tät und Kunst­fer­tig­keit des Ma­lers könne sie je­doch nicht er­setz­en.

Als Ge­gen­po­si­ti­on formte sich in Eng­land ab etwa 1850 die Be­we­gung der Kunst­fo­to­gra­fen. Die­se Fo­to­gra­fen wollten er­rei­chen, dass ih­re Werke als Kunst an­er­kannt wer­den – gleich­be­rech­tigt mit de­nen der bil­den­den Kunst.

Die Kunst­fo­to­gra­fen wollten nicht ein vor­han­den­es Mo­tiv ab­fo­to­gra­fie­ren, sondern ge­zielt ein Bild schaf­fen: Sie be­ton­ten ih­re Au­to­ren­schaft.

Ihr Vor­bild war die aka­de­mi­sche Ma­le­rei je­ner Zeit, vor allem die der Prä­raf­fa­e­li­ten: Die Kunst­fo­to­gra­fen ori­en­tier­ten sich an deren Mo­ti­ven und Kom­po­si­ti­ons­re­geln. Sie lie­sen sich gerne von li­te­ra­ri­schen und his­to­ri­schen The­men in­s­pi­rie­ren. Es ent­stan­den al­le­go­ri­sche Bil­der und in­sze­nier­te Fo­to­gra­fien, qua­si Vor­läu­fer der The­a­ter­fo­to­gra­fie.

Die­se Foto-Künst­ler ar­bei­te­ten gerne im Ate­li­er und häu­fig mit Schau­spie­lern. Die Sze­nen wurden zu­vor skiz­ziert und dann akri­bisch um­ge­setzt. Der Auf­wand war hoch: Kos­tü­me, Re­qui­si­ten, ge­mal­te Hin­ter­grün­de.
Oft wurden meh­re­re Fotos mit un­ter­schied­lich­en Sze­nen auf­ge­nom­men, re­tu­schiert und trick­reich zum fer­ti­gen Ab­zug kom­bi­niert.

Wich­ti­ge Ver­tre­ter der Kunst­fo­to­gra­fie sind Henry Peach Ro­bin­son (1830–1901), Ju­lia Mar­ga­ret Cameron (1815–1879) und Os­car Gus­tav Rej­lan­der (1813–1875).

Gegen En­de des 19. Jahr­hun­derts zerfiel die Be­we­gung der Kunst­fo­to­gra­fen – ih­re Ideen blei­ben je­doch vi­ru­lent.

Mit dem Auf­kom­men der Trocken­plat­te ab den 1880er-Jahren än­der­ten sich die Ar­beits­mö­glich­kei­ten der Fo­to­gra­fen ra­di­kal. Die Emul­sio­nen wurden emp­find­li­cher und mussten nicht mehr direkt nach der Auf­nah­me ent­wick­elt wer­den: Die Fo­to­gra­fen wurden mo­bi­ler und konn­ten Hand­ka­me­ras nut­zen.

Damit wan­del­te sich auch die Äs­the­tik: Zu­sam­men­ko­pier­te Bil­der und ge­küns­tel­te Ate­li­er­po­sen, wie sie die eng­li­schen Kunst­fo­to­gra­fen be­vor­zug­ten, kamen schnell außer Mode.
Es hielt sich je­doch die Idee, dass ein künst­le­ri­scher Fo­to­ab­zug ei­nem Ge­mäl­de oder we­nigs­tens ei­ner Zeich­nung äh­neln müsse.

So ent­wick­el­te sich im späten 19. Jahr­hun­dert der Pic­to­ri­a­lis­mus. Den Kunst­fo­to­gra­fen, die ja über­wiegend Ama­teure waren, ging es neben ihrem äs­the­ti­schen Kon­zept auch da­rum, sich von den Be­rufs­fo­to­gra­fen, vor allem aber von der auf­kom­men­den Knip­ser-Fo­to­gra­fie ab­zu­gren­zen.

Um 1900 hat­te die­se Be­we­gung ih­re größ­te Be­deu­tung, bis in die 1940er-Jahre wurden ent­spre­chen­de Salons ver­an­stal­tet. Ih­re Auf­fas­sun­gen wir­ken bis heu­te nach.

Auch die Pic­to­ri­a­lis­ten ori­en­tier­ten sich an den Ismen der Ma­ler, zu­nächst am Na­tu­ra­lis­mus [u⁠.⁠ ⁠a⁠. Gustave Cour­bet (1819–1877), Max Lie­ber­mann (1847–1835)], spä­ter auch am Im­pres­si­o­nis­mus [u⁠.⁠ ⁠a⁠. Paul Cézanne (1839–1906), Ed­gar De­gas (Hilaire Germain Ed­gar de Gas, 1834–1917), Édouard Ma­net (1832–1883), Claude Mo­net (1840–1926)] und am Sym­bo­lis­mus [u⁠.⁠ ⁠a⁠. Ar­nold Böck­lin (1827–1901), Paul Gau­guin (1848–1903), Edvard Munch (1863–1944), Au­gus­te Ro­din (1840–1917)].

Pro­gram­ma­tisch setzten die Pic­to­ri­a­lis­ten auf Idyl­le, ih­re Mo­ti­ve waren Land­schaf­ten und Por­träts. Auch die Akt­fo­to­gra­fie war schon sehr be­liebt. Die Spu­ren der Industriali­sierung blen­de­ten sie be­wußt aus.
Es galt, nicht bloß Ob­jek­te ab­zu­bil­den. Sie wollten Emo­tio­nen dar­stel­len – Stim­mungen aus Licht und Schat­ten kre­ie­ren.
An­ders als die Kunst­fo­to­gra­fen ver­lie­ßen die Pic­to­ri­a­lis­ten je­doch gerne die Ate­li­ers und ar­bei­te­ten viel im Frei­en.

Es galt das Prin­zip der »In­ten­tion­al Cre­a­tion«: al­les, was das Bild be­stimm­te, war wohl durch­dacht. Das The­ma, die Kom­po­si­ti­on, die Brenn­weite, die ver­wen­de­ten Ma­te­ri­alien – nichts sollte zu­fäl­lig sein.

Um die Gleich­wertig­keit ih­rer Ar­bei­ten mit de­nen der an­er­kan­nten Künst­ler ih­rer Zeit zu be­to­nen, ver­schlei­er­ten die Pic­to­ri­a­lis­ten gerne den tech­ni­schen As­pekt ih­rer Ab­zü­ge.
Die fo­to­gra­fier­ten Ne­ga­tive be­trach­te­ten sie da­bei häu­fig als Roh­ma­teri­al, das auch gerne über­malt und re­tu­schiert wur­de.

In Ab­gren­zung zu den in­dus­t­ri­ell ver­füg­ba­ren Ver­fah­ren wurden im späten 19. Jahr­hun­dert fo­to­gra­fi­sche Po­si­tiv­ver­fah­ren ent­wick­elt, die den Ab­zü­gen häu­fig ei­ne ma­le­ri­sche An­mu­tung gaben und die Her­stel­lung von Uni­ka­ten er­mög­lich­ten.

Das sind die heu­te eher des­pek­tier­lich als »kunst­fo­to­gra­fisch« be­nann­ten Edel­druck­ver­fah­ren, u⁠.⁠ ⁠a⁠. Gummi­druck, Koh­le­druck, Brom­öl­druck, Car­bro­druck und Fo­to­gra­vü­re.
Cha­rak­te­ris­tisch für die­se Ver­fah­ren ist, dass das Bild aus Farb­pig­men­ten ge­bil­det wird. Damit sind far­big­e Dru­cke von Schwarz­weiß­nega­ti­ven mög­lich, zu­dem sind die Bil­der licht­echt und lang­zeit­sta­bil.

Wenn Sie ei­nen solchen Edel­druck noch nicht ge­sehen haben, gibt es da­zu heu­te Abend die Ge­le­gen­heit. Denn hier im Ate­li­er – hin­ten neben der Trep­pe – hängt ein Brom­öl­druck des Fo­to­gra­fen EO Al­brecht (die­ser ist na­tür­lich nicht Teil der ak­tu­ellen Aus­stel­lung).

In­zwi­schen wer­den auch der Ei­sen­blau­druck (Cyano­typie) und der Pla­tin-/Pal­la­di­um­druck zu den Edel­druck­ver­fah­ren ge­zählt. Tech­nisch sind das je­doch Aus­ko­pier­ver­fah­ren wie auch der Salz­pa­pier- oder der Al­bu­min­ab­zug.
Bei diesen Ver­fah­ren wird das Bild aus Me­tal­len auf­ge­baut.

Der Platin­druck wur­de 1873 er­fun­den. Es gibt drei leicht un­ter­schied­liche Vor­ge­hens­wei­sen, das Prin­zip ist je­doch ein­fach; Claus Dieter Geissler wird es Ih­nen spä­ter vor­füh­ren.

Die Pic­to­ri­a­lis­ten bil­de­ten die ers­te glo­ba­le Fo­to­gra­fie­be­we­gung; ih­re Zentren waren Lon­don und New York.
Wich­ti­ge Ver­tre­ter die­ser Schu­le sind Peter Henry Emerson (1856–1936), George Davison (1854/55–1930), Ed­ward Stei­chen (Edouard Jean Stei­chen, 1879–1973), Carl Chris­ti­an Hein­rich Kühn (1866–1944), Ger­tru­de Käse­bier (Ger­tru­de Stanton Kase­bier, geb. Stanton, 1852–1934) und Alvin Langdon Coburn (1882–1966) – um nur ei­ni­ge der Na­men zu nen­nen, die heu­te noch be­kannt sind.
Stark be­för­dert wur­de die Be­we­gung von Al­fred Stieg­litz (1864–1946) und sei­ner le­gen­dä­ren Zeit­schrift Camera Work, die von 1903 an 14 Jahre lang er­schien.

Die Pic­to­ri­a­lis­ten waren in Eu­ro­pa und den USA rund 20 Jahre lang ton­an­ge­bend. Doch die Welt drehte sich wei­ter und der Ge­schmack wan­del­te sich.

Im Zuge der For­de­rung »form follows func­tion« be­gann­en auch Fo­to­gra­fen sich auf die Ei­gen­hei­ten ihres Me­di­ums zu kon­zen­trie­ren und sich von der Ma­le­rei zu eman­zi­pie­ren. Künst­ler beider Be­rei­che ak­zep­tier­ten, dass die un­ter­schied­lich­en Me­di­en ganz in­di­vi­du­el­le Ei­gen­schaf­ten be­sa­ßen und je­weils eigene Mög­lich­keiten der Dar­stel­lung boten.

Neben an­de­ren Pic­to­ri­a­lis­ten ging auch Al­fred Stieg­litz diesen Weg. Als He­raus­ge­ber sei­ner Zeit­schrift hat­te er noch ge­schrieben, dass jede ver­öf­fent­lich­te Ab­bil­dung (image) ein Bild (pic­ture) sei, kei­ne Fo­to­gra­fie. 1923 be­ton­te er dann, sei­ne Fo­to­gra­fien sähen aus wie Fo­to­gra­fien.

Die Zeit der Straight Pho­tog­ra­phy und der neu­sach­li­chen Fo­to­gra­fie war an­ge­bro­chen, In­sze­nie­rung­en und Ma­ni­pu­la­tio­nen der Fo­to­gra­fien wurden nun ab­ge­lehnt. De­tail­treue und ei­ne ab­so­lu­te Bild­schär­fe wer­den zen­tra­le äs­the­ti­sche Kri­te­rien.

Die Edel­druck­ver­fah­ren und vor allem der Pla­tin-/Pal­la­di­um­druck haben je­doch alle Moden über­stan­den und ge­hö­ren nach wie vor zum um­fang­rei­chen fo­to­gra­fi­schen Werk­zeug­kas­ten.

Und wie un­se­re Aus­stel­lung zeigt, eig­nen sich die alten Ver­fah­ren pri­ma für die zeit­ge­nös­si­sche Kunst­pro­duk­tion.
Denn an­ge­sichts der Mar­gi­na­li­sie­rung der emul­si­ons­ba­sier­ten Fo­to­gra­fie hat der hand­werk­lich per­fekt aus­ge­ar­bei­te­te Fo­to­ab­zug in­zwi­schen ei­nen ganz be­son­de­ren Stel­len­wert.


Fußnoten.
ahttps://www.medienfrech.de/foto/NzF/2014-03-17_Martin-Frech_Das-nasse-Kollodiumverfahren-eine-fotohistorische-Verortung.html
bhttps://www.medienfrech.de/foto/NzF/2009-11-03_Martin-Frech_Bromoeldruck-ein-fotografisches-Edeldruckverfahren.html

Lit.:

Wand mit aufprojiziertem Portrait (Foto: Carsten Kurz, 5/2014)
Mein Vor­trag wur­de via Face­time prä­sen­tiert. (Foto: Cars­ten Kurz, 5/2014)
Wand mit aufprojiziertem Portrait (Foto: Carsten Kurz, 5/2014)

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Zitierempfehlung (.BibTeX, .txt):
Frech, Martin: »Die Pha­se des Pic­to­ri­a­lis­mus in der Ge­schich­te der Fo­to­gra­fie«. In: Notizen zur Fotografie, 2014-05-17. Online: https://www.medienfrech.de/foto/NzF/2014-05-17_Martin-Frech_Die-Phase-des-Pictorialismus-in-der-Geschichte-der-Fotografie.html
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