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Gerry Jo­hans­son: »Deutsch­land« (Buch und Aus­stel­lung)

Martin Frech

Der schwe­di­sche Fo­to­graf Gerry Jo­hans­son (geb. 1945) hat 1993 so­wie von 2005 bis 2012 Deutsch­land be­reist und hier fo­to­gra­fiert. 2012 wurden die Er­trä­ge die­ses Pro­jekts als Buch mit dem Ti­tel Deutsch­land ver­öf­fent­licht.⁠ [1] Ei­ne Aus­wahl der Bil­der ist noch bis zum 30. März in ei­ner Aus­stel­lung in Ber­lin zu se­hen.⁠ [2] Infos zum Fo­to­gra­fen fin­den sich auf des­sen Web­site.⁠ [3]

Das Werk Deutsch­land ist der sechs­te und wohl letz­te Ti­tel ei­ner Se­rie in der Jo­hans­son bis­her die Bücher Ame­ri­ka (1998), Sverige (2005), Kvi­dinge (2007), Ulan Bator (2009) und Pontiac (2011) ver­öf­fent­licht hat.

Gerry Jo­hans­son pub­li­ziert nicht als Men­schen-Fo­to­graf. Per­so­nen sind auf sei­nen Bil­dern nicht zu se­hen – ihn in­te­r­es­siert die von den Men­schen ge­stal­te­te Kul­tur­land­schaft. Er steht damit in der Tra­di­tion der »New-To­po­graph­ics«-Be­we­gung, die spä­tes­tens seit Wil­liam Jenkins’ na­mens­ge­ben­der Aus­stel­lung von 1975 ei­ne Wende in der Land­schafts­fo­to­gra­fie ein­ge­lei­tet hat: weg von ide­a­li­sier­ten Land­schafts­dar­stel­lungen, hin zur do­ku­men­ta­ri­schen Ar­bei­ten.

Jo­hans­sons Fo­to­gra­fien er­zäh­len kei­ne Ge­schich­te und bil­den kei­ne Ty­po­lo­gie. Ich wür­de die Ar­beit auch nicht als Se­rie be­zeich­nen – es ist viel­mehr ei­ne Samm­lung, die bei­na­he wie ein Ka­ta­log auf­ge­macht ist.

Von jedem Ort gibt es ein Bild, als Bild­be­schrei­bung ist un­ter jedem Bild nur der Name des Ortes an­ge­ge­ben; die Sei­ten sind nicht pa­gi­niert. Die Bil­der sind al­pha­be­tisch sor­tiert nach den An­fangs­buch­sta­ben der Orte. Ei­ne klei­nen Schwä­che ist je­doch, dass Bil­der von Or­ten mit dem­sel­ben An­fangs­buch­sta­ben nicht nach dem zwei­ten bzw. drit­ten Buch­sta­ben sor­tiert sind. In diesen Fäl­len ist mir auch kein wei­ter­es Sor­tier­kri­te­rium auf­ge­fal­len; es er­scheint mir an­de­rer­seits aber auch un­wahr­schein­lich, dass ge­ra­de hier der Zu­fall ins Spiel kommt.

Außer den üb­li­chen Edi­ti­ons­ver­mer­ken ist dem Buch kein Text bei­ge­ge­ben.

Für das Pro­jekt hat Jo­hans­son Deutsch­land in neun Sek­to­ren ein­ge­teilt und die­se dann sys­te­ma­tisch be­reist. Nach wel­chem Prin­zip er die Orte aus­wähl­te, ist mir nicht be­kannt.

Offen­sicht­lich in­te­res­sier­ten ihn aber eher die klei­nen Städte, ano­nyme tra­di­ti­o­nel­le Ar­chi­tek­tur und der länd­li­che Raum. Von den großen sechs sind Ber­lin, Ham­burg und Frank­furt/M. ver­tre­ten – Mün­chen, Köln und Stutt­gart blie­ben je­doch au­ßen vor. Viel­leicht hat er dort auch ge­sucht, aber kei­ne für ihn pas­sen­den Mo­ti­ve ge­fun­den. Ich denke, dass die Grö­ße oder der Sta­tus der Stadt für sei­ne Wahl so­wie­so un­er­heb­lich ist; die Bil­der aus Ber­lin (Tor­haus am Bun­des­kanz­ler­amt) und Wolfs­burg (VW-Werk) sind in die­ser Hin­sicht Aus­nah­men.

Ich habe schon ei­ni­ges ge­sehen in und von Deutsch­land. Ich kenne die großen Städte, aber auch viele kleine Ort­schaf­ten. Jo­hans­sons Bil­der haben mich – auf den ersten Blick – nicht über­rascht. So sieht es eben aus bei uns. An­de­rer­seits habe ich aber auch auf kaum ei­nem sei­ner durch­weg kli­schee­freien Bil­der den je­wei­li­gen Ort wie­der­er­kan­nt; Grund genug für viele wei­te­re Blicke!

Gerry Jo­hans­son ist stu­dier­ter Gra­fik­de­si­g­ner und hat lan­ge in diesem Be­ruf ge­ar­bei­tet. Als Fo­to­graf ist er erst seit 1985 prä­sent. Ihn schei­nen in sei­nen sorg­fäl­tig kom­po­nier­ten Bil­dern vor allem gra­fi­sche Be­zü­ge zu in­te­res­sie­ren – viel­leicht auf Grund die­ser Vor­bil­dung.

Häu­fig bringt er Linien in Vorder- und Hin­ter­grund zur De­ckung, etwa ei­nen Zaun und den Ho­ri­zont, wo­bei er im sel­ben Bild ei­ne Tan­ne am linken Rand ver­ti­kal exakt hal­biert (Sie­me­ro­de); oder die lin­ke Kan­te ei­nes an­ge­schni­tte­nen Hauses im Vor­der­grund mit der rech­ten Kan­te des Hauses im Hin­ter­grund (Bad Cam­berg, Düs­sel­dorf, Frank­furt/O., Geth­lin­gen).

An an­de­ren Or­ten fin­det der Fo­to­graf Strei­fen auf ei­ner Mau­er, die sich durch sei­ne Stand­ort­wahl schein­bar im da­hin­ter ste­hen­den Haus fort­set­zen (Böken) oder Geh­weg­platten, die exakt pa­ral­lel zu ei­nem mehr­eckig­en Schau­fens­ter ver­lau­fen (Bad Brü­cken­au).

In Al­ten­lin­gen hat er ei­ne In­dus­t­rie­an­la­ge durch das da­vor­lie­gen­de Ge­wäs­ser exakt spie­gel­sym­me­trisch auf­ge­nom­men und in Nin­dorf hat er ei­nen Wohn­wa­gen mit zwei Spitz­gie­beln fo­to­gra­fiert.

Auf an­de­ren Bil­dern ist die Il­lu­si­on der Raum­tie­fe ab­han­den ge­kom­men: Gerry Jo­hans­son lässt durch sei­nen fron­ta­len Blick die Tiefen­staf­fe­lung ein­fach ver­schwin­den (Burg, Frei­burg, Nen­din­gen, Nürn­berg, Pots­dam, So­lin­gen).

An ei­ni­gen Or­ten weicht Jo­hans­son von der (ur­ba­nen) Land­schafts­fo­to­gra­fie ab und zeigt Ar­chi­tek­tur­de­tails (Höch­städt, Leip­heim, Neu­en­dorf) bzw. ein Wand­relief (Werdau) oder ei­ne Fen­ster­de­ko­ra­tion (Freden).

Aber auch vor deut­lich hu­mo­ris­ti­schen Bild­fin­dung­en schreckt der Au­tor nicht zu­rück. Etwa wenn er in Tü­bin­gen das Si­gnet ei­ner Wer­be­agen­tur mit Ver­kehrs­zei­chen kor­re­liert oder in Laage ein Wahl­pla­kat auf­nimmt und die La­ter­ne, an deren Pfahl es hängt, der Kan­di­da­tin schein­bar den Hut auf­setzt.

usw. usf.: Ent­spre­chen­de in­ner­bild­li­che Be­zü­ge las­sen sich in jedem von Jo­hans­sons ins­ge­samt 176 Bil­dern aus­ma­chen. Ich finde es an­re­gend, das Buch un­ter diesem As­pekt zu lesen. Auch nach dem x-ten Durch­blät­tern wird mir Deutsch­land nicht lang­wei­lig – im Ge­gen­teil: mir fal­len immer wie­der neue De­tails auf.

Es gibt je­doch ei­ni­ge Mo­ti­ve, bei de­nen Jo­hans­sons Me­tho­de an ih­re Gren­ze stößt und ir­ri­tie­ren­de Kom­po­si­tio­nen durch ei­gen­ar­tig ab­ge­schnit­te­ne Kirch­tür­me und Schorn­stei­ne ent­ste­hen (Kem­nitz, Ly­chen, Pots­dam, Weetzen).

Gerry Jo­hans­son hat sei­ne ruhigen Bil­der durch­weg im qua­d­ra­ti­schen Mit­tel­for­mat mit der sog. Nor­mal­brenn­wei­te auf­ge­nom­men und tra­di­ti­o­nell in der Dun­kel­kam­mer aus­ge­ar­bei­tet. Die bei­na­he qua­d­ra­tisch aus­ge­ar­bei­te­ten Bil­der sind nur leicht be­schnit­ten: Das For­mat der Edi­ti­ons-Prints (5 + 1 AP, EUR 2.100) misst an­ge­neh­me 29,5 × 29 cm.

Auf­fal­lend an den Ori­gi­nal­ab­zü­gen ist, dass Gerry Jo­hans­son auf Pa­pie­re mit un­ter­schied­lich ein­ge­färb­tem Trägern ge­prin­tet hat. Ich hat­te ver­mu­tet, dass dies mit der Markt­la­ge zu tun hat (etwa Agfa MCC ver­sus Adox MCC). Die Ber­li­ner Ga­le­ris­tin hat je­doch ver­si­chert, dass dies ei­ne be­wuß­te Bild-für-Bild-Ent­schei­dung Jo­hans­sons ist, eben­so wie die un­ter­schied­liche Grau­fär­bung sei­ner selbst her­ge­stel­lten Holz-Bilder­rahmen. Das sind De­tails, die im Buch lei­der nicht zur Gel­tung kom­men.

Gerry Jo­hans­sons Deutsch­land war mein bes­ter Fo­to­buch­kauf seit langem.


Fußnoten.
1Gerry Jo­hans­son: Deutsch­land. Gö­te­borg (Schwe­den): M A C K, 2012. ISBN 978-1-907946-35-6
2Gerry Jo­hans­son: Deutsch­land. 16.02. bis 30.03.2013, Swedish Pho­tog­ra­phy, Karl-Marx-Al­lee 62, 10243 Ber­lin. swedishphotography.org [2013-02-17; nicht mehr da]
3⁠ ⁠gerryjohansson.com/index.html [2013-02-17; 2020-05-03]

Wei­te­re Be­spre­chung­en zu Jo­hans­sons Deutsch­land-Buch:

Zitierempfehlung (.BibTeX, .txt):
Frech, Martin: »Gerry Jo­hans­son: ›Deutsch­land‹ (Buch und Aus­stel­lung)«. In: Notizen zur Fotografie, 2013-02-20. Online: https://www.medienfrech.de/foto/NzF/2013-02-20_Martin-Frech_Gerry-Johansson-Deutschland-Buch-und-Ausstellung.html
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Frech, Martin: »Gerry Jo­hans­son: ›Deutsch­land‹ (Buch und Aus­stel­lung)«. In: Notizen zur Fotografie, 2013-02-20. Online: https://www.medienfrech.de/foto/NzF/2013-02-20_Martin-Frech_Gerry-Johansson-Deutschland-Buch-und-Ausstellung.html$1