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Kris Heide: »Lost in Re­flec­tion – Shang­hai«

Martin Frech
Abstract.
Am ver­gan­ge­nen Frei­tag [16.11.2012] haben wir mit ei­ner Ver­nis­sa­ge die Aus­stel­lung Lost in Re­flec­tion – Shang­hai mit Bil­dern von Kris Heide er­öff­net. Noch bis zum 18. Ja­nu­ar 2013 sind die Fo­to­gra­fien in der schael­pic pho­to­kunst­bar in Köln zu se­hen.
Die Aus­stel­lung ist unser zwei­ter Bei­trag zum Kölner China­jahr 2012.
Zur Ein­führ­ung habe ich ei­ne kurze An­spra­che ge­hal­ten, die ich hier do­ku­men­tie­re.

Wir be­spie­len diesen Pro­jekt­raum im siebten Jahr – heu­te er­öff­nen wir un­se­re 12. Aus­stel­lung. Zum Aus­klang des Kölner China­jahres ist dies un­se­re drit­te Aus­stel­lung mit ei­nem di­rek­ten Chi­na-Be­zug; 2009 hatten wir Guisi Fa­nel­las Ar­beit »Living in Chi­na«⁠ [1] und diesen Som­mer To­bi­as Voll­mers Fotos zu ur­ba­nen Räu­men in Chi­na.⁠ [2]

Heu­te prä­sen­tie­ren wir Kris­ti­na Heides Foto-Ar­bei­ten »Lost in Re­flec­tion«, »Street­structures« und »Mo­po­logy«.

Kris­ti­na Heide hat in Bonn Kunst­ge­schich­te stu­diert und dort 1993 ein­schlä­gig zu »Stil­leben in der Ma­le­rei der Neuen Sach­lich­keit« pro­mo­vie­rt.
Seit ei­ni­gen Jahren malt, zeich­net und fo­to­gra­fiert sie künst­le­risch. Da­ne­ben ar­bei­tet sie kul­tur­ver­mit­telnd: Un­ter dem Mot­to »Kunst ist Le­ben« zeigt sie seit 2009 re­gel­mäßig Aus­stel­lung­en in ihrem Kunst­raum M2O in Tü­bin­gen.

Kris­ti­na Heide hat sich vor zwei Jahren sechs Mo­na­te lang in Shang­hai auf­ge­hal­ten.
Shang­hai ist neben Pe­king und Gu­ang­zhou die der­zeit drit­te Me­ga­stadt Chinas, sie hat mehr als 10 Mio. Ein­woh­ner. Der Groß­raum Shang­hai gilt so­gar als wer­den­de Hy­per­stadt, also als ein Ge­bil­de mit über 20 Mio. Ein­woh­nern, das noch deut­lich grö­ßer und kom­ple­xer ist als die Me­ga­stadt.

Kris­ti­na Heide hat sich die­ser Stadt aus­ge­setzt, sie hat sich auf die Stadt ein­ge­las­sen. Be­mer­kens­wert da­bei ist, dass die Künst­le­rin we­der chi­ne­sisch spricht noch die Schrift lesen kann.
Die­se Set­zung war wie ein künst­le­ri­sches Selbst-Ex­pe­ri­ment. Die Er­geb­nis­se haben die durch­aus aus­lands­er­fah­re­ne Kris­ti­na Heide selbst über­rascht.

Ih­re Sprach­lo­sig­keit und die sehr ein­ge­schränk­ten Kom­mu­ni­ka­ti­ons­mög­lich­kei­ten hat sie deut­lich als Ver­lust emp­fun­den.
Um­so über­ra­schen­der war für sie die Be­ob­ach­tung, wie sich da­durch ih­re Sinne schärf­ten.

Die Künst­le­rin nutzte au­ßer­sprach­li­che Res­sour­cen, um die ihr in vie­ler­lei Hin­sicht fremde Kul­tur wahr­zu­neh­men. Heides künst­le­ri­scher Pro­duk­ti­vi­tät war es von Nut­zen: ih­re stark ge­stei­ger­te vi­su­el­le Wahr­neh­mungs­fä­hig­keit wur­de zur Ba­sis für ih­re Ar­beit vor Ort.

Neben den bei uns aus­ge­stell­ten Fo­to­gra­fien ent­stan­den Zeich­nung­en, die dem­nächst un­ter dem Ti­tel »Shang­hai Faces« in Reut­lin­gen zu se­hen sein wer­den.

Ei­ne wich­ti­ge Ent­de­ckung war für Kris­ti­na Heide ein his­to­ri­sches Ge­bäu­de im Be­zirk Hong­kou: der ehe­ma­li­ge Schlacht­hof von Shang­hai.
Heu­te heißt das Ge­bäu­de »Shang­hai 1933«. Es wur­de zu ei­nem künst­le­ri­schen Kris­tal­li­sa­ti­ons­punkt.

Ich muss die­ses Ge­bäu­de hier kurz be­schrei­ben – um zu ver­deut­li­chen, wa­rum ge­ra­de die­ses Bau­werk so gut zu Kris­ti­na Heides da­ma­li­ger Ge­fühls­la­ge passte.

Der Schlacht­hof wur­de vor etwa hun­dert Jahren von bri­tisch­en Ar­chi­tek­ten ge­plant und kom­plett mit bri­ti­schem Be­ton er­rich­tet. 1933 wur­de er als ei­ner der größ­ten Schlacht­höfe die­ser Zeit in Be­trieb ge­nom­men. Er wur­de etwa 30 Jahre lang ge­nutzt; spä­ter diente das Ge­bäu­de ver­schie­de­nen an­de­ren Zwe­cken. Ab 2006 wur­de es im Rah­men der Stadt­ent­wick­lung re­no­viert. Es soll sich zu ei­nem Lu­xus-Kauf­haus ent­wick­eln; ei­ni­ge wenige Läden, Cafés und Res­tau­rants, aber auch der Club der Fer­ra­ri-Be­sit­zer sind schon ein­ge­zo­gen.

Das Ge­bäu­de ist an­ge­legt als Zen­tral­bau, das heißt, die Haupt­ach­sen des Grund­risses sind un­ge­fähr gleich lang. Häu­fig sind die Grund­ris­se von Zen­tral­bau­ten rund oder kreuz­för­mig, hier ist er qua­d­ra­tisch. Schon die An­la­ge des Schlacht­hofs als Zen­tral­bau ist be­mer­kens­wert, da man die­ses Prin­zip sonst haupt­säch­lich bei Sa­kral­bau­ten fin­det (z⁠.⁠ ⁠B⁠. Fel­sen­dom/Je­ru­sa­lem, Pan­the­on/Rom, Pfalz­ka­pel­le/Aa­chen, Frau­en­kir­che/Dres­den oder St. Gereon hier in Köln). Aber auch Ge­fäng­nis­se und der Ple­nar­saal in Düs­sel­dorf sind Bei­spie­le für Zen­tral­bau­ten.

»Shang­hai 1933« ist fünf Stock­wer­ke hoch und wird von über 300 frei­ste­hen­den Säulen ge­tra­gen. (Über die Ge­schoß­hö­hen und die Aus­ma­ße des Ge­bäud­es konn­te ich lei­der nichts in Er­fahr­ung brin­gen.)
Der ei­gent­li­che Schlacht­be­reich ist 24-eckig, ge­baut als ein drei­stöckig­es zen­tra­les Atri­um. Da­rum grup­pie­ren sich vier äu­ße­re Be­rei­che.
Span­nend ist, wie der in­ne­re Schlacht­be­reich er­schlos­sen ist: Als Zu­gän­ge gibt es ei­ne Viel­zahl von in­ein­an­der­grei­fen­den Wen­del­trep­pen, Rampen und Brücken – je­weils ver­schie­den breit und in un­ter­schied­lich­en Win­keln ge­neigt.

Das ist kei­ne ar­chi­tek­to­ni­sche Spin­ner­ei, sondern folgt ganz lo­gisch den Ar­beits­ab­läu­fen im Schlacht­haus. Es ging u⁠.⁠ ⁠a⁠. da­rum, die Ströme der Tier­mas­sen zu re­geln, die Tiere zu se­pa­rie­ren und für die Ar­bei­ter Flucht­we­ge im Fal­le ei­ner Tier­panik zu haben.

Funk­tions­los ge­wor­den und weit­ge­hend leer, er­scheint das Ge­bäu­de heu­te da­ge­gen la­by­rin­thisch, wie ein Irr­gar­ten mit Art-deco-Fas­sa­de.
Die Kunst­his­to­ri­ke­rin Heide er­inner­te das Ge­bäu­de an die Ker­ker-Vi­sio­nen von Giam­bat­tis­ta Pira­nesi aus dem 18. Jahr­hun­dert oder auch an die jün­ge­ren Werke von Maurits Cor­ne­lis Escher. Sie emp­fand es als stein­ge­wor­de­ne Wirk­lich­keit ei­ner je­ner Ar­chi­tek­tur­phan­ta­si­en – ei­ne Si­tu­a­ti­on ir­gen­dwo zwi­schen Traum und Re­al­ität. Für sie wur­de »Shang­hai 1933« zum Sym­bol für ih­re Des­ori­en­tie­rung, ih­re Ein­sam­keit und ih­re Sprach­lo­sig­keit.

In die­ser Si­tu­a­ti­on ent­stand die Ar­beit »Lost in Re­flec­tion«.
»Re­flec­tion« be­zieht sich hier so­wohl auf die Spie­ge­lung­en, aber auch auf das Nach­den­ken über die Si­tu­a­ti­on. Der mehr­deu­ti­ge Ti­tel ver­weist nicht zu­fäl­lig auf So­fia Coppolas Film »Lost in Trans­la­tion«, der ein ver­gleich­ba­res The­ma ver­han­delt.

Heides Werk be­steht aus zwei Tei­len: Ei­nem Ta­bleau aus sechs großen Ein­zel­fo­tos und aus ei­ner Dia­pro­jek­tion.
Auf den Fotos sind Men­schen als Sil­hou­et­ten und Re­fle­xi­on­en in großen Fens­tern zu se­hen.
Die Dias da­ge­gen zei­gen Ar­chi­tek­tur­de­tails aus dem Schlacht­hof-Ge­bäu­de. Im Fluß der Pro­jek­tion vi­su­a­li­siert die Ar­beit vor­der­grün­dig das Ver­lo­ren­sein und die Ori­en­tie­rungs­lo­sig­keit in dem Ge­bäu­de. Sym­bol­haft steht die Ar­beit damit für die An­nä­he­rung an das Fremde und die ent­spre­chen­den Schwie­rig­kei­ten.

Neben der Spra­che ist das The­ma der zwi­schen­mensch­li­chen Dis­tanz un­ter Frem­den beim Er­le­ben an­de­rer Kul­tu­ren wich­tig. Für Kris­ti­na Heide war der Um­gang mit kör­per­li­cher Nä­he in der Öf­fent­lich­keit un­ge­wohnt und teil­wei­se ver­stö­rend. Da­zu kam die Er­fahr­ung, dass dort ein­fach viel mehr Men­schen auf den Stra­ßen un­ter­wegs sind, als bei uns. Mit ih­rer klei­nen Se­rie »Street­struc­tures« nimmt Kris­ti­na Heide Be­zug auf ih­re ent­spre­chen­den Er­fahr­un­gen.

Ganz an­ders die Se­rie »Mo­po­logy«. Sie ist in ihrem do­ku­men­ta­ri­schen Stil ein Ge­gen­pol zu den an­de­ren, eher abs­trak­ten Ar­bei­ten. Der Ti­tel deu­tet es an: Kris­ti­na Heide zeigt uns Stil­leben mit chi­ne­si­schen Wisch­mopps. Die Se­rie ist ei­ne Zu­sam­men­stel­lung schnell fo­to­gra­fier­ter hu­mor­voll­er All­tags­be­ob­ach­tun­gen, ent­stan­den während Spa­zier­gäng­en in ver­schie­de­nen chi­ne­si­schen Städten.

Im öf­fent­li­chen Raum Chinas ist der Feu­del of­fen­bar all­ge­gen­wär­tig. Ob im Hin­ter­hof, an ele­gan­ten Stra­ßen oder beim Tem­pel – der Mopp wird ge­zeigt. Es sind ja auch in­di­vi­du­el­le Stücke, oft in Heim­ar­beit her­ge­stellt. Je­den­falls sehr ver­schie­den von un­se­rer in­dus­t­ri­el­len Mi­kro­fa­ser-Mas­sen­wa­re.

Oder ab­schlie­ßend mit den Wor­ten der Künst­le­rin: »Er kommt als aus­ge­präg­tes In­di­vi­du­um mit ei­ge­ner Ge­schich­te da­her oder es for­mie­ren sich so­gar kleine Grup­pen, wie im Ge­spräch. Er ist kein Ge­rät, sondern viel­mehr ei­ne Art Per­sön­lich­keit mit Ei­gen­le­ben, die sei­nen Be­sit­zer spie­gelt.«


Fußnoten.
1Giusi Fa­nella: »Living in Chi­na«; schael­pic Pho­to­kunst­bar, Köln; 24.04. bis 29.05.2009
mein Vor­trag zur Ein­führ­ung: Frech, Mar­tin: »Giusi Fa­nella: ›Liv­ing in China‹ | An­mer­kun­gen«. In: No­ti­zen zur Fo­to­gra­fie, 2009-04-25. On­line: ⁠ ⁠medienfrech.de/foto/NzF/2009-04-25/Giusi-Fanella_Living-in-China.htmla [2020-07-07]
2To­bi­as Voll­mer: »China Con­struc­tion«; schael­pic Pho­to­kunst­bar, Köln; 18.06. bis 31.08.2012
mein Text­chen zur Ein­führ­ung: Frech, Mar­tin: »To­bi­as Voll­mer: ›China Con­struc­tion‹«. In: No­ti­zen zur Fo­to­gra­fie, 2012-06-27. On­line: ⁠ ⁠medienfrech.de/foto/NzF/2012-06-27/Tobias-Vollmer_China-Construction.htmlb [2020-07-07]
ahttps://www.medienfrech.de/foto/NzF/2009-04-25_Martin-Frech_Giusi-Fanella-Living-in-China-Anmerkungen.html
bhttps://www.medienfrech.de/foto/NzF/2012-06-27_Martin-Frech_Tobias-Vollmer-China-Construction.html
Martin Frech, Tobias D. Kern, Kris Heide (v. li.; Foto: Theo Hilgers/AfM)
Mar­tin Frech, To­bi­as D. Kern, Kris Heide (v. li.; Foto: Theo Hilgers/AfM)
Martin Frech, Tobias D. Kern, Kris Heide (v. li.; Foto: Theo Hilgers/AfM)
Impression von der Vernissage (Foto: Theo Hilgers/AfM)
Im­pres­si­on von der Ver­nis­sa­ge (Foto: Theo Hilgers/AfM)
Impression von der Vernissage (Foto: Theo Hilgers/AfM)
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Frech, Martin: »Kris Heide: ›Lost in Re­flec­tion – Shang­hai‹«. In: Notizen zur Fotografie, 2012-11-21. Online: https://www.medienfrech.de/foto/NzF/2012-11-21_Martin-Frech_Kris-Heide-Lost-in-Reflection-Shanghai.html
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Frech, Martin: »Kris Heide: ›Lost in Re­flec­tion – Shang­hai‹«. In: Notizen zur Fotografie, 2012-11-21. Online: https://www.medienfrech.de/foto/NzF/2012-11-21_Martin-Frech_Kris-Heide-Lost-in-Reflection-Shanghai.html$1