NzF

To­bi­as D. Kern: »Stig­ma­ta«

Martin Frech
Abstract.
Am ver­gan­ge­nen Frei­tag [21.09.2012] haben wir mit ei­ner Ver­nis­sa­ge die Aus­stel­lung »Stig­ma­ta« mit Bil­dern von To­bi­as D. Kern er­öff­net. Noch bis zum 31. Ok­to­ber 2012 ist die hin­ter­grün­dig be­ti­tel­te Se­rie hand­ver­größer­ter Schwarz­weiß-Bil­der in der schael­pic pho­to­kunst­bar in Köln zu se­hen. Die Aus­stel­lung ist unser Bei­trag zur 21. In­ter­na­ti­o­na­len Pho­to­sze­ne Köln. Zur Ein­führ­ung habe ich ei­ne kurze An­spra­che ge­hal­ten, die ich hier do­ku­men­tie­re.

Der durch­schnitt­li­che deut­sche Groß­stadt­be­woh­ner geht etwa zwei­mal im Jahr im Wald spa­zie­ren. Das ergab ei­ne Um­frage von 1990. Ob sich das Wald­ver­hal­ten des Groß­städters in den letz­ten 20 Jahren ge­wan­delt hat, weiß ich lei­der nicht.

To­bi­as D. Kern war je­doch ganz si­cher öf­ters im Wald – und hat bei sei­nen Spa­zier­gäng­en die Mo­ti­ve für sei­ne hier ge­zeig­te Fo­to­serie ge­fun­den.

Er hat Baum­zei­chen ge­sam­melt: Jene auf­ge­sprüh­ten Mar­kie­run­gen, die Förs­ter als Hin­weise für die Wald­ar­bei­ter an den Bäumen an­brin­gen. Wir Frei­zeit-Wald­nutzer wis­sen nicht genau, was die­se Zei­chen be­deu­ten. Aber klar ist: Die sig­nal­far­big grell mar­kier­ten Bäume sind nicht nur ein­fach ge­kenn­zeich­net – sie sind stig­ma­ti­siert.

Bäume sind Le­be­we­sen; aber auch Roh­stoff im sys­te­ma­tisch op­ti­mier­ten Nutz­wald. Sind Bäume un­se­re Sklaven? Kön­nen wir die Baum­zei­chen ver­glei­chen mit den Stig­ma­ta der alt­rö­mis­chen Sklaven, also den Ver­let­zungen, mit de­nen die­se als Stra­fe für schwere Ver­bre­chen ge­brand­markt wurden?

Je­den­falls sind die stig­ma­ti­sier­ten Bäume se­lek­tiert. Die Zei­chen be­stim­men, welche Bäume ge­fällt wer­den und welche ste­hen blei­ben; sie mar­kie­ren aber auch We­ge für die schwe­ren Fahr­zeu­ge der Wald­ar­bei­ter oder sie in­for­mie­ren über Schäd­lings­be­fall.

To­bi­as D. Kerns Bil­der ge­hen je­doch deut­lich über das Do­ku­men­ta­ri­sche hi­naus.
Das Er­le­ben der Baum­zei­chen in der Ein­sam­keit sei­ner Wald­be­su­che hat bei ihm ei­ne ro­man­ti­sche Sai­te zum Schwin­gen ge­bracht. Fast scheint es, als hätten die vor­der­grün­dig zu rein prak­ti­schen Zwe­cken an­ge­brach­ten Mar­kie­run­gen bei ihm Er­in­ne­run­gen aus un­se­rem kol­lek­ti­ven Un­ter­be­wusst­sein her­vor­ge­ru­fen. Er­in­ne­run­gen an un­se­re tra­di­ti­o­nel­len My­then und Sa­gen.

Kerns Bil­der spre­chen et­was an, was häu­fig als ein spe­zi­fisch deut­sches Phä­no­men be­schrie­ben wird. Die Deut­schen sind ja das Wald­volk par ex­cel­lence – das be­haup­ten je­den­falls Volks­kund­ler, die mit diesem The­ma be­fas­st sind.
In­te­res­san­ter­wei­se hat das je­doch nichts damit zu tun, dass wir etwa be­son­ders häu­fig im Wald wären, oder den Wald be­son­ders in­ten­siv nut­zen würden.
Auch sind die all­ge­mei­nen Kennt­nis­se über den Wald wohl eher ge­ring – das le­gen je­den­falls ent­spre­chen­de Um­fra­gen nahe. Mei­ne kri­ti­sche Selbst­di­a­g­no­se be­stä­tigt diesen Be­fund.

Un­se­re di­a­gnos­ti­zier­te Wald­be­geis­te­rung ist also viel­mehr ei­ne Kopf­sa­che – ei­ne kul­tu­rel­le Prä­gung, die dem Wald die Rol­le ei­ner Ku­lis­se zu­weist. Der ein­zel­ne Baum oder an­de­re Wald-De­tails sind uns da­bei nicht so wich­tig.

Er­fun­den wur­de die­ser Wald-My­thos vor ge­ra­de ein­mal 200 Jahren; in der Zeit der Ro­man­tik.
Da­mals ver­lo­ren die In­tel­lek­tu­el­len das In­te­res­se an den klas­sisch­en Vor­bild­ern aus der Antike. Sie in­te­res­sier­ten sich ver­stärkt für ih­re eigene Kul­tur: Mär­chen, Volks­lie­der und mit­tel­al­ter­li­che Sa­gen kamen wie­der in Mode.

Die Ro­man­tik war ei­ne Ge­gen­be­we­gung zur Auf­klä­rung und zum Klas­si­zis­mus.
Gegen Ver­nunft und Ra­ti­o­na­lis­mus wurden Ge­fühl, In­di­vi­du­a­li­tät und die Be­deu­tung von Emp­fin­dung­en in Stel­lung ge­bracht.
Die sym­bo­li­schen Orte die­ser Zeit fin­den sich vor allem im Wald. Sie ken­nen das bei­spiels­wei­se aus den Bil­dern von Caspar Da­vid Fried­rich: Fel­sen und Wäl­der im Ne­bel, Klos­ter­ru­i­nen usw.

Im Grimm, dem Deut­schen Wör­ter­buch der Brüder Grimm (bei­de waren übri­gens aus­ge­wie­se­ne Ro­man­ti­ker), ist das so zu­sam­men­ge­fasst:
»Be­son­ders waren die Ro­man­ti­ker für die Reize und die Po­e­sie des Waldes emp­fäng­lich und haben allen Stim­mungen, die der Wald im deut­schen Ge­müt her­vor­ruft, Aus­druck ge­ge­ben; von den Pflan­zen­nam­en ab­ge­se­hen, tritt die große Mas­se der Zu­sam­men­set­zun­gen mit Wald- und Waldes- erst in der ro­man­ti­schen Dich­tung auf.«

Die ro­man­ti­sche Wald-Be­geis­te­rung war ein ur­ban-eli­tä­res Phä­no­men: die sol­cher­ma­ßen erg­rif­fe­nen In­tel­lek­tu­el­len – die Schrift­stel­ler, Ma­ler und Kom­po­nis­ten je­ner Zeit – lebten durch­weg in den Städten. Ei­ni­ge wenige Bei­spie­le: Caspar Da­vid Fried­rich: Greifs­wald und Dres­den; Lud­wig Rich­ter: Dres­den; Jo­han­nes Brahms: Ham­burg, Det­mold, Wien; Ri­chard Wagner: Leip­zig, Dres­den, Zü­rich, Bay­reuth; Franz Schu­bert: Wien; E. T. A. Hoff­mann: Kö­nigs­berg, Ber­lin; die Brüder Grimm: Kas­sel, Göt­tin­gen, Ber­lin; Wilhelm Hauff: Stutt­gart; Lud­wig Tieck: Ber­lin.

Die »Wald­ein­sam­keit« (ein Schlag­wort der Zeit), von der die Ro­man­ti­ker schwärm­ten, war für die meis­ten Bau­ern vor 200 Jahren nichts er­hol­sa­mes oder gar hei­me­lig­es. Der Wald war für sie eher ein un­wirt­li­cher Ort, wo wilde Tiere und bö­se Geis­ter zu Hause waren, wo sich der Mensch aber nicht gerne auf­hielt.
Für die waldnah le­ben­den Dorf­be­woh­ner war der Wald ein Nut­zungs­raum: ein Ort zur Holz­be­schaf­fung, zur Im­ke­rei, zum Bee­ren­sam­meln usw.

Und hier sind wir wie­der bei Kerns Bil­dern, die uns ja vor­der­grün­dig genau über die Wald­nut­zung in­for­mie­ren.

To­bi­as D. Kern hat bei der Aus­ar­bei­tung sei­ner tra­di­ti­o­nell auf Film auf­ge­nom­men­en Bil­der in der Dun­kel­kam­mer zwar Ak­zen­te ge­setzt hin­sicht­lich der Hell-Dun­kel-Kon­tras­te. Den­noch sind sei­ne Bil­der of­fen ge­stal­tet und ver­wei­gern ei­ne ein­deu­tige Aus­sa­ge.

Las­sen wir uns ein auf ein in­ten­siv­es Be­trach­ten, wer­den wir da­her be­lohnt mit ei­nem bei­na­he me­di­ta­ti­ven Er­leb­nis; viel­leicht so­gar mit dem An­trieb, mal wie­der selbst den Wald zu be­su­chen.

Ich rede zur Er­öff­nung. (Foto: An­drea Otto, AfM)

Fußnoten.
ahttp://www.schaelpic.de/
bhttps://www.medienfrech.de/foto/NzF/2013-10-23_Martin-Frech_Hinweise-zu-Tobias-D-Kerns-Arbeit-Wissende-Heiterkeit-Eine-photographische-Annaeherung-an-Heideggers-Feldweg.html
chttps://www.medienfrech.de/foto/NzF/2019-12-06_Martin-Frech_Tobias-D-Kern-Hartmannswillerkopf.html
dhttps://www.medienfrech.de/foto/NzF/2025-01-30_Martin-Frech_Gedanken-zu-Tobias-D-Kern-Wo-Sophia-wohnt-2024.html
To­bi­as D. Kern: Stig­ma­ta
Aus­stel­lungs­ort: ⁠ ⁠schael­pic pho­to­kunst­bara
Schan­zen­stra­ße 27
51063 Köln
Tel. (02 21) 29 99 69 20
Aus­stel­lungs­dau­er:
22. Sep­tem­ber bis 31. Ok­to­ber 2012
(Mo. bis Fr., 10 bis 18 Uhr
und nach Ver­ein­ba­rung)

Weiterlesen: ⁠ ⁠Hin­weise zu Tobias D. Kerns Ar­beit »Wis­sen­de Heiter­keit. Ei­ne pho­to­gra­phi­sche An­nä­he­rung an Heideggers Feld­weg.«b, ⁠ ⁠Tobias D. Kern: »Hart­manns­willer­kopf« (2016–2018)c, ⁠ ⁠Ge­dan­ken zu Tobias D. Kern: »Wo Sophia wohnt« (2024)d

Zitierempfehlung (.BibTeX, .txt):
Frech, Martin: »To­bi­as D. Kern: ›Stig­ma­ta‹«. In: Notizen zur Fotografie, 2012-09-24. Online: https://www.medienfrech.de/foto/NzF/2012-09-24_Martin-Frech_Tobias-D-Kern-Stigmata.html
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Frech, Martin: »To­bi­as D. Kern: ›Stig­ma­ta‹«. In: Notizen zur Fotografie, 2012-09-24. Online: https://www.medienfrech.de/foto/NzF/2012-09-24_Martin-Frech_Tobias-D-Kern-Stigmata.html$1