NzF

Thomas Bachler: »Tat­or­te« | An­mer­kun­gen

Martin Frech
Abstract.
Am ver­gan­ge­nen Sonn­tag [2008-03-16] wur­de mit ei­ner Ma­ti­nee in Köln die Aus­stel­lung mit der Se­rie »Tat­or­te« von Thomas Bachler. [Thomas Bachler: »Tat­or­te«. ⁠ ⁠schael­pic pho­to­kunst­bar, Kölna; 17.03. bis 30.05.2008]
Mei­nen Ein­füh­rungs­vor­trag do­ku­men­tie­re ich hier.

Anmerkungen zu Thomas Bachlers Serie Tatorte

Thomas Bachler ist ein Künst­ler, des­sen Werk ich sehr schätze. Da­her freue ich mich ganz be­son­ders, dass ich ihn für die­se Aus­stel­lung ge­win­nen konn­te. ⁠ [1]

Schon das ers­te Bild, das ich von ihm sah, hat mich nach­hal­tig be­ein­druckt. Es heißt Kopf­schuss und war ab­ge­druckt auf der Ti­tel­sei­te der Zeit­schrift Pin­hole Jour­nal vom De­zem­ber 1994.⁠ [2]

Kopf­schuss ist ein Selbst­por­trait des Pho­to­graphen.
Es zeigt ihn mit durch­schos­se­nem Kopf. Das Ein­schuss­loch er­setzt das rech­te Au­ge.

Menschliche Silhouette vor Türrahmen mit Fotopapier-Loch an der Position des Kopfes (Foto: Thomas Bachler, 1993)
Kopf­schuss (Thomas Bach­ler, 1993)
Menschliche Silhouette vor Türrahmen mit Fotopapier-Loch an der Position des Kopfes (Foto: Thomas Bachler, 1993)

Ein starkes Bild. Ein Pho­to­graph zer­stört sein Au­ge.
So kann man das se­hen.

In Kennt­nis sei­nes Werkes kann ich je­doch sa­gen: Die­ser vor­der­grün­di­ge An­satz greift zu kurz. Thomas Bachler geht es nicht um Zer­stö­rung, eher um Er­kennt­nis: Der Schuss öffnet ihm das Au­ge.

Der for­ma­le Be­zug zu den hier ge­zeig­ten Bil­dern aus Thomas’ Se­rie Tat­or­te ist deut­lich.

Die Tat­or­te ent­stan­den 1997, also vier Jahre nach Kopf­schuss so­wie 2006 – mit der­sel­ben Tech­nik. Sie zu un­ter­schei­den ist ein­fach.
Alle Quer­for­ma­te wurden in Kas­sel auf­ge­nom­men und zei­gen un­ter­schied­liche Mo­ti­ve. Die Hoch­for­ma­te ent­stan­den spä­ter und zei­gen Park­bän­ke aus Dres­den.

Wir se­hen un­spek­ta­ku­lä­re urbane Orte – je­weils mit Ein­schuss­loch.

Der Se­rien­ti­tel wur­de ur­sprüng­lich mit Bin­de­strich ge­schrieben: Tat-orte.
Zwei Les­ar­ten bie­ten sich an.

Zum ei­nen könn­ten die Orte tat­säch­lich Tat­or­te sein im straf­recht­li­chen Sinne, also Orte, an de­nen ei­ne Straf­tat be­gan­gen wor­den ist.

Zum an­de­ren sind die Plätze auf jeden Fall Orte, an de­nen et­was ge­tan wur­de, näm­lich ei­ne dunkle Kam­mer mit ei­nem Pis­to­len­schuss in ei­ne Loch­ka­me­ra zu ver­wan­deln.
Denn, wie es im Ka­ta­log un­nach­ahm­lich heißt, erst die Tat macht ei­nen Ort zum Tat­ort.

Ich werde Sie im wei­te­ren nicht mit Bild­ana­ly­sen lang­wei­len, sondern da­rü­ber re­den, wie die­se Bil­der prak­tisch ent­stan­den sind.

Die­se Photos sind kei­ne Mon­ta­gen!

Thomas Bachler nutzte die Tech­nik der Loch­ka­me­ra – und er hat tat­säch­lich ge­schos­sen.

Die Loch­ka­me­ra ist ein ein­fa­ches Ge­rät. Es be­steht aus vier Tei­len:

  1. ei­nem Stück Film oder Pho­to­pa­pier,
  2. ei­ner licht­dichten Kam­mer zum Schutz die­ses licht­emp­find­li­chen Ma­te­ri­als,
  3. ei­ner Loch­blen­de und
  4. ei­nem Ver­schluss.

Die Loch­ka­me­ra funk­tio­niert ohne Ob­jek­tiv (»lin­sen­lo­se Fo­to­gra­fie«).

Das Prin­zip ist, die Au­ßen­welt durch ein klei­nes Loch in ei­nen Raum zu pro­ji­zie­ren. Der Raum kann be­lie­big groß sein.
Johannes Kepler hat für die­se Vor­rich­tung im 17. Jahr­hun­dert den Be­griff Camera Obs­cura (dunk­ler Raum) ein­ge­führt. Na­tur­for­scher haben seit dem Al­ter­tum mit der Camera Obs­cura ge­ar­bei­tet.

Die Pro­jek­ti­ons­flä­che kann licht­emp­find­li­ch­es Ma­te­ri­al sein; dort kann aber auch die Staf­fe­lei ei­nes Ma­lers ste­hen.
Ab dem 16. Jahr­hun­dert hat wohl kaum ein Ma­ler auf die­ses Hilfs­mi­ttel ver­zich­tet. Mög­lich­er­weise sind so­gar schon die Höh­len­bil­der von Lascaux durch Ab­ma­len ei­nes Loch-Bil­des ent­stan­den.⁠ [3]

Der Be­griff pin hole stammt aus dem 19. Jahr­hun­dert, als mit der Er­fin­dung der Pho­to­gra­phie die Camera Obs­cura auch als Photo-Ka­me­ra ge­nutzt wur­de.

Die Loch­ka­me­ra-Pho­to­gra­phie ist je­doch immer ein Rand­ge­biet der Pho­to­gra­phie ge­blie­ben.

Thomas Bachler hat die­ser lan­gen Ge­schich­te der Camera Obs­cura mit sei­nen ge­schos­se­nen Pho­to­gra­phi­en ei­nen neuen As­pekt hin­zu­ge­fügt.
Mei­nes Wissens ist er der Er­fin­der die­ses Ver­fah­rens.

Er plat­zier­te 18 × 24 cm großes Pho­to­pa­pier in ei­ner ge­schlos­se­nen Schach­tel. Statt des Aus­lö­sers drück­te er den Ab­zug sei­ner Pis­to­le. Da­bei stand er übri­gens vor der Ka­me­ra.
Der Schuss er­zeug­te die Loch­blen­de und star­te­te damit die Auf­nah­me.

Die Be­lich­tungs­zeit be­trug zwi­schen ei­ner halben und vier Mi­nu­ten. Das war na­tür­lich ab­hän­gig von den Licht­ver­hält­nis­sen und der ent­stan­de­nen Loch­größe. Der Pho­to­graph schätz­te die­se Zeit­dauer.
Die Be­lich­tung wur­de durch Ab­kle­ben der Löcher un­ter­bro­chen.
Im Ge­gen­satz zu ei­ner her­kömm­li­chen Loch­ka­me­ra hat Thomas Bachlers Auf­bau nach der Auf­nah­me drei Löcher: das Pro­jek­til hat die Schach­tel und das Pho­to­pa­pier durch­schl­agen.

Die Aus­ar­bei­tung der beiden Werk­grup­pen er­folg­te auf un­ter­schied­liche Wei­se.
Die klei­nen For­ma­te wurden durch di­rek­tes Um­ko­pie­ren her­ge­stellt.
Die großen Bil­der sind Ver­grö­ße­rung­en der Pa­pier­ne­ga­ti­ve.

Thomas Bachler hat – ich habe das be­reits an­ge­deu­tet – schon in jun­gen Jahren sei­ne Spu­ren in der Photo-Ge­schich­te hinter­las­sen. Im Stan­dard­werk zur Loch­ka­me­ra-Pho­to­gra­phie⁠ [4] ist er gleich drei­mal pro­mi­nent ver­tre­ten: mit un­ter­schied­lich­en Po­si­ti­on­en und eben­so ver­schie­de­nen wie un­ge­wöhn­li­chen Ka­me­ra-Kon­zep­ten.

Ihn des­we­gen als Loch­ka­me­ra-Künst­ler zu apo­stro­phie­ren, wür­de sei­nem Werk je­doch nicht ge­recht wer­den.
Die Ka­me­ra ist für Thomas Bachler tat­säch­lich nur ein Werk­zeug zur Um­set­zung sei­ner Kon­zep­te.
Die Loch­ka­me­ra schätzt er sehr, da die­se wie kaum ei­ne an­de­re pho­to­gra­phi­sche Tech­nik selbst Teil des spä­te­ren Bil­des ist.
Wenn Sie sich je­doch in sein Werk ver­tie­fen, wird Ih­nen auf­fal­len, dass er so gut wie kei­ne pho­to­gra­phi­sche Tech­nik aus­lässt.⁠ [5]

Aber auch hier gilt: das Ori­gi­nal ist durch nichts zu er­setz­en.

Nut­zen Sie also die seltene Ge­le­gen­heit und las­sen Sie Thomas Bachlers Bil­der hier auf sich wir­ken. Viel­leicht ist das ja der Ein­stieg in ei­ne in­ten­sive­re Be­schäf­ti­gung mit dem Künst­ler und sei­nem Werk.
Es lohnt sich!


Fußnoten.
1zu un­se­rer Aus­stel­lung gibt es ei­nen Ka­ta­log: Bach­ler, Thomas: Tat­or­te. Dres­den, 2007. ISBN 978-3-940246-02-8
2Pin­hole Jour­nal Vol. 10 #3, De­zem­ber 1994: Black and White Con­tem­po­rary Im­ages 2. ISSN 0885-1476
3so die Paleo-Ka­me­ra-The­o­rie von Matt Gatton: ⁠ ⁠paleo-camera.com/ [2020-05-09]
4Ren­ner, Eric: Pin­hole Pho­tog­ra­phy. Re­dis­cov­er­ing a His­tor­ic Tech­nique. 3. Aufl. Ams­ter­dam u⁠.⁠ ⁠a⁠.: Else­vier, 2004. ISBN 0-240-80573-9
5Ei­nen guten Über­blick über sein Werk be­kom­men Sie auf den Web-Sei­ten des Künst­lers: ⁠ ⁠thomasbachler.de/ [2020-05-09]
ahttps://www.schaelpic.de
bhttps://www.schaelpic.de/
Thomas Bachler: Tat­or­te
Aus­stel­lungs­ort:
⁠ ⁠schael­pic pho­to­kunst­barb
Schan­zen­stra­ße 27
51063 Köln
Tel. (02 21) 29 99 69 20
Aus­stel­lungs­dau­er:
17. März bis 30. Mai 2008
(Mo. bis Fr., 10 bis 18 Uhr
und nach Ver­ein­ba­rung)
Zitierempfehlung (.BibTeX, .txt):
Frech, Martin: » Thomas Bachler: ›Tat­or­te‹ | An­mer­kun­gen«. In: Notizen zur Fotografie, 2008-03-19. Online: https://www.medienfrech.de/foto/NzF/2008-03-19_Martin-Frech_Thomas-Bachler-Tatorte-Anmerkungen.html
Zitierempfehlung:
@article{NzF.2008-03-19,
	author  = {Frech, Martin},
	date    = {2008-03-19},
	title   = {Thomas Bachler: ›Tat­or­te‹ | An­mer­kun­gen},
	journal = {Notizen zur Fotografie},
	url     = {https://www.medienfrech.de/foto/NzF/2008-03-19\_Martin-Frech\_Thomas-Bachler-Tatorte-Anmerkungen.html},
	urldate = {$0},
}
Zitierempfehlung:
Frech, Martin: » Thomas Bachler: ›Tat­or­te‹ | An­mer­kun­gen«. In: Notizen zur Fotografie, 2008-03-19. Online: https://www.medienfrech.de/foto/NzF/2008-03-19_Martin-Frech_Thomas-Bachler-Tatorte-Anmerkungen.html$1